Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 111-113

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Bol’šaja vojna Rossii. Social’nyj porjadok, publičnaja kommunikacija i nasilie na rubeže carskoj i sovetskoj ėpoch. Sbornik statej [Der Große Krieg Russlands. Soziale Ordnung, öffentliche Kommunikation und Gewalt an der Schwelle der zarischen und der sowjetischen Epoche. Eine Aufsatzsammlung]. Red. K. Bruiš / N. Katcer. Moskva: NLO, 2014. 207 S. = Studia Europaea. ISBN: 978-5-4448-0155-0.

Zu seinem Zentenarium ist der Erste Weltkrieg in vieler Munde. Kaum ein Tag vergeht, an dem die printmediale Öffentlichkeit nicht einer Begebenheit, meist einer Schlacht oder einem bedeutenden Akteur, die Reverenz erweist. Die Monographien Christopher Clarks Die Schlafwandler, Herfried Münklers Der Große Krieg oder Jörn Leonhards Die Büchse der Pandora haben in der Bundesrepublik breiten Widerhall gefunden. Zahlreiche Besprechungen, Repliken und Kommentare, an denen sich auch die Doyens der bundesdeutschen Historikerzunft wie Hans-Ulrich Wehler und Hermann August Winkler in den großen Presseorganen beteiligten, haben dazu geführt, dass die herrschende Meinung der Post-Fischer-Kontroverse bezüglich der Kriegsschuld des Deutschen Reichs hinterfragt wird. Der Begriff der „Revision“ ist bereits gefallen.

Dass angesichts seines Jubiläums der Erste Weltkrieg Gegenstand zahlreicher Tagungen auch in Russland war und ist, nimmt nicht wunder. Der hier zur Besprechung vorliegende, angenehm schmale Sammelband mit seinen neun Beiträgen reicht auf eine Tagung zurück, die im Deutschen Historischen Institut in Moskau bereits im Herbst des Jahres 2011 stattfand.

Piotr Szlanta behandelt das Verhältnis von russischer Armee und polnischer Zivilbevölkerung in Galizien in den ersten Kriegsmonaten bis zur Rückeroberung des Gebiets durch die Mittelmächte im Frühjahr 1915. Die russischen Behörden sahen in den Polen eine Stütze der eigenen Herrschaft, avisierten ihnen kulturelle Autonomie und versprachen sich durch Gewalt gegenüber Juden, aber auch durch eine Landreform auf Kosten des (polnischen) Großgrundbesitzes Akzeptanz. Nicht nur die tief verwurzelten antirussischen Ressentiments in der polnischen Bevölkerung, eine aggressive Russifizierungspolitik der russischen Verwaltung, sondern auch eine ausgeprägte polnische Loyalität gegenüber der Donaumonarchie verhinderten jedoch ein gedeihliches Verhältnis (S. 31–33).

Franziska Davis untersucht, inwieweit sich die zarischen Streitkräfte der Loyalität und der Akzeptanz der Untertanen des multiethnokonfessionellen Imperiums erfreuten. Sie verdeutlicht, dass der Armee eine einheitliche Strategie zur Integration der Muslime des Reichs gefehlt habe: Während Baškiren und Wolgatataren einberufen wurden, galten für Krimtataren Sonderregelungen, während die Muslime des Kaukasus und Zentralasiens eximiert waren. Die Hoffnungen muslimischer intellektueller und politischer Eliten, dass Regime werde ihre Loyalität und ihren Beitrag zur Landesverteidigung honorieren und umfassendere Bürgerrechte konzedieren, erfüllten sich nicht (S. 53–57).

Alexandre Sumpfs Beitrag ist dem sich wandelnden Verständnis von Kriegsinvaliden sowie dem Verhältnis von Invalidität und Expertise gewidmet. Etwa 40 % aller Kriegsverletzten erwiesen sich nicht mehr als fronttauglich. Laut einer Statistik eines Minsker Militärkrankenhauses aus dem zweiten Kriegsjahr hatten sich über 6 % ihre Verletzungen selber zugefügt. Angesichts dieser Zahlen überrascht es weder, dass sich die Alimentierung der Invaliden, die sich an dem Grad der Beeinträchtigung orientierte, als eine Belastung der sozialen Fürsorge erwies, noch dass sie bei dem leisesten Verdachtsmoment auf Selbstverstümmelung gestrichen wurde. Die Wiedereingliederung der Invaliden in den Arbeitsprozess bereitete große Schwierigkeiten. Nach dem Oktoberumsturz erfuhr die soziale Hierarchisierung der Invaliden eine Erweiterung um eine politische Dimension. Die Sowjetmacht versorgte nicht nur Versehrte des Bürgerkriegs besser als Bedürftige der Armee des Ancien régime, sondern sie weigerte sich auch, Invaliden aus den Gebieten, die nicht zu Sowjetrussland gehörten, überhaupt zu bedenken.

Julija Aleksandrovna Žerdeva beschäftigt sich mit der propagandistischen Visualisierung von Zerstörung, Leid und Elend in Postkarten, Holzschnitten, Karikaturen, Photos, Illustrierten und im Film während des Ersten Weltkriegs. Ziel sei es gewesen, die eigene Gesellschaft moralisch über die gegnerische zu erheben und letztere als ‚barbarisch‘ zu diffamieren. Dabei wurden auch Nichtkombattanten wie Frauen der Täterschaft, beispielsweise des Marodierens, bezichtigt.

Boris Ivanovič Kolonickijs Beitrag beschäftigt sich mit den Repräsentationen der Krankenschwestern in der russischen Kultur. Zumindest unter den Mannschaftsgraden der zarischen Armee galt die Krankenschwester als Sexualobjekt. Diesen Eindruck unterstrich ein Artikel der in Helsingfors erscheinenden sozialrevolutionären Tageszeitung Narodnaja Niva (No. 11, 6.5.1917, S. 3). Sie berichtete, Großfürst Boris Vladimirovič habe sich einen Harem an Kokotten gehalten, die alle wie Krankenschwestern gekleidet gewesen seien. In dem Maße, indem sich die Zarin und ihre Töchter in den Dienst der patriotischen Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte stellten und in den Hospitälern alle möglichen Aufgaben bis hin zum Waschen der Füße von Soldaten verrichteten, büßten sie ihre sakrosankte Aura und ihre Stellung ober- bzw. außerhalb der Ständepyramide ein. Die Zarin und ihre Töchter wurden zum Gegenstand anzüglicher Bemerkungen und lieferten Gerüchten über anrüchigen Lebenswandel und sexuelle Lasterhaftigkeit Vorschub. Die Zarin wurde desakralisiert, letztlich demokratisiert und popularisiert, so dass ihre Tätigkeit in propagandistischer Hinsicht zwar in den Entente-Staaten auf Anerkennung stieß, innerhalb des Russländischen Reichs aber genau das Gegenteil erreichte: Der Zarismus wurde in den Augen der Gesellschaft diskreditiert.

Oksana Sergeevna Nagornajas Beitrag beschäftigt sich zum einen mit dem Wandel der in der Gesellschaft vorherrschenden Repräsentationen der Kriegsgefangenen. Generell gilt, dass die großen Zahlen russischer Kriegsgefangener in der russischen Gesellschaft immer wieder dem Verdacht Vorschub leisteten, dass sie massenhaft desertiert seien. Gleichwohl ist ein Wandel der herrschenden öffentlichen Rezeption erkennbar: Wurden Kriegsgefangene bis zum Februar 1917 als Opfer deutscher Grausamkeiten und Inkarnation der Loyalität gegenüber Zar und Vaterland dargestellt, galten sie seit der Revolution als Medium eines etwaigen Separatfriedens und nach dem Oktoberumsturz als Träger des Atheismus. Zum anderen untersucht der Aufsatz die Darstellung der Kriegsgefangenschaft im Werk der drei sowjetischen Schriftsteller Anton Ul’janskij, Kirill Levin und Konstantin Fedin, deren künstlerische Verarbeitungen des Themas sich mit der Memoirenliteratur und den Erlebnissen der Betroffenen nicht immer deckten, aber gleichwohl glänzend zu einem Masternarrativ verweben ließen.

Oleg Vital’evič Budnickij untersucht die Judenpogrome der Bürgerkriegsjahre auf dem Territorium der Ukraine und stellt diese in ein Kontinuum der antijüdischen Gewalt und des in der zarischen Armee verbreiteten Antisemitismus.

Christoper Gilley bindet seine Untersuchung über die „Gewalträume“ in der Ukraine in den Jahren 1917 bis 1922 mit Rekurs auf die Überlegungen von Robert Gerwarth und John Horne in ein größeres Narrativ der Gewalt ein. Vier Faktoren steckten gleichsam den Rahmen ab: erstens die Erfahrung „industriellen Tötens“ im Ersten Weltkrieg, zweitens Revolution und Konterrevolution, drittens der Zusammenbruch des Imperiums und viertens die Erfahrung der Niederlage. Darüber hinaus thematisiert er den Stellenwert von Ideologie und Nationalismus für die Entwicklung des warlordism in der Ukraine. Gilley wendet sich gegen Felix Schnells Erklärungsansatz, dass allein schon die Gewaltpartizipation sinnstiftend gewirkt habe, und hebt, ungeachtet mancher programmatischer Widersprüche, auf politische Aussagen der warlords als Komponenten einer Gruppenidentität, bei der auch die Wiederbelebung von Traditionen eine wichtige Rolle gespielt habe, ab (S. 173, 176).

Igor’ Vladimirovič Narskij erörtert am Beispiel des Urals die Bellifizierung der Lebenswelten in der russischen Provinz in den Jahren von Krieg und Bürgerkrieg. Während das Gebiet im Weltkrieg ruhiges Hinterland gewesen sei, penetrierte der Bürgerkrieg es bereits im November 1917 und es habe dann einen mehrfachen Herrschaftswechsel erlebt. „Erfahrung“ sei daher für die lokale Bevölkerung eine Schlüsselkategorie geworden. Der Aufsatz greift zwar die Überlegung entstaatlichter Gewalträume auf, unterlässt es aber, das weiterreichende, von Gilley herangezogene Modell auf den Ural anzuwenden. Ob der von den Bol’ševiki verwendete und Gewalt legitimierende Bürgerkriegsmythos in weiten Teilen der Bevölkerung des Urals auf Akzeptanz gestoßen ist, wäre angesichts der heterogenen politischen Gemengelage des Gebiets zu überprüfen. Dies konzediert Narskij allerdings selbst (S. 197–198, 200). Zu fragen wäre ferner, ob und inwieweit die Bellifizierung nach dem Bürgerkrieg andauerte. Hierfür müsste allerdings der Untersuchungszeitraum erweitert werden.

Alle Autoren sind als Spezialisten ihrer hier behandelten Fragen ausgewiesen. Neue Thesen präsentieren sie nicht. Dieser Sammlung ist im Lektürekanon zum Ersten Weltkrieg – angesichts der wahren Springflut neuer Publikationen – nicht höchste Priorität beizumessen. Gleichwohl bieten die sorgfältig recherchierten, oft auf umfangreichen Archivforschungen basierenden Beiträge einen schnellen Zugriff auf tiefere Einsichten.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Bol’šaja vojna Rossii. Social’nyj porjadok, publičnaja kommunikacija i nasilie na rubeže carskoj i sovetskoj ėpoch. Sbornik statej [Der große Krieg Russlands. Soziale Ordnung, öffentliche Kommunikation und Gewalt an der Schwelle der zarischen und der sowjetischen Epoche. Eine Aufsatzsammlung]. Red. K. Bruiš / N. Katcer. Moskva: NLO, 2014. 207 S. = Studia Europaea. ISBN: 978-5-4448-0155-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Bruisch_Bolsaja_vojna_Rossii.html (Datum des Seitenbesuchs)

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