Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 2, S. 305-308

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Donald Filtzer: The Hazards of Urban Life in Late Stalinist Russia. Health, Hygiene, and Living Standards, 1943–1953. Cambridge [etc.]: Cambridge University Press, 2010. XXX, 379 S., 5 Ktn., 48 Graph., 42 Tab. ISBN: 978-0-521-11373-1.

Das Tauwetter erwies sich im letzten Jahrzehnt der Stalinära für die Stadtbewohner als zwiespältige Erscheinung: Der Schnee verdeckte wohltuend wie ein Mantel manche Unzulänglichkeit der deplorablen sowjetischen Realität. Das Tauwetter dagegen war weniger Signum des Frühlings, es symbolisierte vielmehr die Zeit des Schlamms und stand für die Notwendigkeit, die im Winter gefrorenen Exkremente sowie den nicht entsorgten Müll schnellstens zu beseitigen, um die Infektionsgefahr einzudämmen. Eine archivalische Trouvaille aus dem Bestand der Staatlichen Hygieneinspektion (Gosudarstvennaja sanitarnaja inspekcija, GSI) veranlasste Donald Filtzer, einen durch zahlreiche Veröffentlichungen ausgewiesenen Fachmann der jüngeren sowjetischen Geschichte an der Universität von East London, dazu, sich mit Hygieneproblemen sowjetischer Städte im Spätstalinismus zu beschäftigen. Die Studie basiert im Wesentlichen auf Archivalien der Zentralen Statistischen Verwaltung und des Gesundheitsministeriums. Sie konzentriert sich auf die Groß- und Kleinstädte mehrerer Regionen: des Moskauer Gebiets, des zentralen Industriegebiets (Jaroslavl’ und Ivanovo), des Wolgagebiets (Gor’kij [Nižnij Novgorod], Kazan’ und Kujbyšev [Samara]), des Ural (Molotov [Perm’], Sverdlovsk [Ekaterinburg] und Čeljabinsk) sowie des westsibirischen Schwerindustriezentrums Kuzbass.

Die Monographie ist systematisch in fünf Kapitel gegliedert: Das erste beschäftigt sich mit Aspekten der „Städtetechnik“. Eine fehlende Kanalisation führte in den Städten dazu, dass Abwasser menschlicher und industrieller Herkunft Gewässer, Boden und auch die Trinkwasserbrunnen kontaminierte. Während die Stadtbewohner des Deutschen Reichs 1913 zu 90 % an die Kanalisation angeschlossen waren, waren es in den Städten der UdSSR, vom flachen Land ganz zu schweigen, selbst 1975 nicht einmal zwei Drittel (vgl. S. 25). Und dort, wo eine Kanalisation existierte, wurden die Abwässer oft weder gereinigt noch aufbereitet. Auch die Müllentsorgung der sowjetischen Städte ließ zu wünschen übrig. Der Krieg potenzierte die Probleme der Städte: Der Staat überließ sie gerade in finanzieller Hinsicht weitgehend sich selbst, so dass notwendige Investitionen für die Hygieneinfrastruktur unterbleiben mussten. Die Städte mussten Tausende Evakuierter aufnehmen. Da LKW und Pferde für die Armee requiriert wurden, konnte beispielsweise die Millionenstadt Kazan’ in den Jahren 1943/44 lediglich 10 % der menschlichen Abfälle beseitigen. Verbreitet war neben dem Vergraben von Fäkalien insbesondere die Müllverbrennung, doch waren beide Varianten der Entsorgung nicht dazu angetan, die sanitären Probleme zu verringern. Nach dem Krieg entspannte sich die Situation, sie blieb jedoch alles andere als zufriedenstellend (S. 38–41, 47–56). Der zweite Abschnitt ist der meist unzulänglichen Trinkwasserversorgung einerseits sowie der wachsenden Wasserverschmutzung anderseits gewidmet. In der Stadt Molotov (Perm’), die 1951 fast 400.000 Einwohner zählte, verfügten lediglich 10 % der Wohnungen über fließendes Wasser (S. 67). Die Wasserqualität ließ vielerorts infolge von Kontamination und mangelnder Aufbereitung zu wünschen übrig. Der Wasserverbrauch pro Kopf der Bevölkerung war gering (S. 85–104). Die sich daraus ergebenden Konsequenzen thematisiert der dritte Teil, welcher der Körperhygiene gewidmet ist. Da die meisten Unterkünfte über keine Badezimmer verfügten, galt die banja, das öffentliche Badehaus, als zentrales Instrumentarium zur Prophylaxe gegen epidemische Krankheiten, doch wurde sie selten öfter als zweimal im Monat aufgesucht (S. 133–140, 161). Aufgrund der beengten und unhygienischen Wohnverhältnisse stand in der staatlichen Perspektive die öffentliche Sicherheit im Mittelpunkt des Interesses. Allerdings erschwerte die hohe Mobilität der sowjetischen Bevölkerung in den ersten Nachkriegsjahren eine wirkungsvolle Kontrolle, um die Ausbreitung von Epidemien zu unterbinden. Im Übrigen ist es bemerkenswert, wie wenig der sowjetische „Neue Mensch“ ungeachtet der Zivilisierungsmission der Bol’ševiki die grundlegenden Hygieneregeln internalisiert hatte: Noch 1946 musste eine Erziehungskampagne daran erinnern, Toiletten in „zivilisierter Weise“ zu benutzen und sich im Anschluss die Hände mit Seife zu waschen. Der Umstand, dass Seife bis 1949 in den staatlichen Läden kaum erhältlich war, fand allerdings keine Erwähnung (S. 58, 136–137, 141). Der vierte Punkt setzt sich mit Problemen der Ernährung und der Lebensmittelversorgung bzw. -rationierung auseinander. Laut Filtzer war die Hungersnot des Jahres 1947, die insbesondere die Südukraine und Moldawien betraf, lediglich der Kulminationspunkt einer seit den späten dreißiger Jahren andauernden Periode permanenter Mangelernährung. Hinzu kamen die klimatischen Bedingungen und Lebensumstände: Kalte Winter, schwere physische Arbeit, der Weg zur Arbeit ohne funktionierenden Nahverkehr, unzureichende Kleidung, überfüllte, schlecht geheizte, unhygienische und teilweise feuchte Wohnungen. Diesem Ursachenbündel ist es zuzuschreiben, dass landesweit etwa 1–1,5 Mio. Menschen der Hungerkrise in Verbindung mit einer Typhusepidemie zum Opfer fielen. Gleichwohl unterschied sich diese Hungersnot von früheren, weil vor allem Arbeiter selbst in entfernten Regionen wie Čeljabinsk, wo die Mortalität 1947 aus noch nicht bekannten Gründen um 63 % stieg und damit 20 % höher als der Mittelwert der RSFSR lag, zu den Opfern zählten, während die Bauern ihr Überleben durch Rückgriff auf Lebensmittelreserven, vor allem aber über die Verfügbarkeit von Milchprodukten, sichern konnten. Nahrungsmittel wie Obst, Fleisch, Getreide, Gemüse und Milchprodukte waren rar; ein höherer Zuckerkonsum kompensierte aber einen Teil der fehlenden Kalorienmenge (S. 226–244). Das fünfte und letzte Kapitel thematisiert die Kindersterblichkeit, die im Zarenreich weit größer als in anderen Staaten Europas war. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es der UdSSR, die Kindersterblichkeit auf etwa 10 % der Lebendgeburten und in den fünfziger Jahren auf die Hälfte zu reduzieren, was vor allem auf die erfolgreiche Behandlung von Lungenentzündungen, in geringerem Maße auch von Magen- und Darmkrankheiten zurückzuführen war.

Die Monographie erörtert detailliert die Lebensbedingungen der Stadtbewohner. Als Akteure treten die Stadtbewohner aber nicht in Erscheinung, sie werden lediglich als Objekte der Sanitärinspektion und anderer staatlicher Institutionen behandelt. Ohne Zweifel ist Filtzers Schilderung der völlig unzureichenden städtischen Lebensverhältnisse beeindruckend, gleichwohl wäre es aufschlussreich gewesen zu erfahren, wie die Menschen im ersten sozialistischen Staat der Welt, in überfüllten kommunalki, mit wenig Wechselwäsche, ohne Seife und sauberes, fließendes Wasser, frierend, unzureichend ernährt, von Ungeziefer gepeinigt und oft in körperlich anstrengenden Berufen arbeitend, ihre Situation wahrgenommen und beschrieben haben. Wie reagierte die Bevölkerung beispielsweise auf die regelmäßig im Frühjahr und Herbst verordneten Maßnahmen, die Städte von Müll und Exkrementen zu säubern? Selbstbeschreibende und mündliche Quellen wären hier eine sinnvolle Ergänzung gewesen.

Zu bedauern ist ferner, dass Filtzer mit keinen biographischen Angaben der GSI-Inspektoren aufwarten kann. In der Regel handelte es sich um Mediziner, die die hygienischen Verhältnisse der Fabriken, Märkte und Geschäfte, der Wohnungen, Baracken und Wohnheime zu inspizieren und die GSI darüber schriftlich zu informieren hatten. Die Inspektoren besaßen keinerlei sanktionierende exekutive Gewalt. Hierfür waren die lokalen Sowjets zuständig. Es scheint sich um „Überzeugungstäter“ gehandelt zu haben: Wer sonst wäre bereit gewesen, sich widrigen, unattraktiven und zum Teil auch lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen bei lange Jahre schlechterer Entlohnung, als sie Krankenhausärzte erhielten, geringem Sozialprestige und frustrierender Tätigkeit infolge fehlender Kompetenzen, die beispielsweise von Fabrikdirektoren immer wieder konterkariert wurde, auszusetzen? Hierüber erfährt der Leser aber nichts. Zu monieren sind darüber hinaus zahllose Wiederholungen, die sich in epischer Breite wie ein roter Faden durch das Buch ziehen.

Filtzer zieht ein wenig überraschendes Fazit: Die besten Lebensbedingungen und auch Überlebenschancen bot Moskau, gefolgt von den größeren Provinzzentren. In jeder Beziehung deplorabel war das Leben in den Kleinstädten der Provinz. Warum aber wurden existierende Gesetze, die Industrieemissionen untersagten, nicht angewandt? Warum erhielten Umweltsünder – wenn überhaupt – nur symbolische bzw. Bagatellstrafen? Warum degenerierten viele Flüsse zu Kloaken mit toxischen Substanzen, warum klärten selbst Krankenhäuser oder Fabriken, obwohl es technisch möglich gewesen wäre, ihre Abwässer nicht (vgl. S. 45–46, 115)? Filtzer argumentiert, dass die GSI mit einer Vielzahl unterschiedlicher Ministerien, in deren Verantwortlichkeit sich die einzelnen Fabriken befanden, sowie dem staatlichen Plankomitee, Gosplan, verhandeln musste, um die städtischen Umweltbedingungen zu verbessern. Da die GSI aber keinerlei Sanktionsgewalt besaß, überschritt diese herkulische Aufgabe ihre Möglichkeiten. Filtzer macht letztlich das sowjetische Wirtschaftssystem für die Misere verantwortlich: Die Preisbildung erfolgte nicht über den Markt, und die Betriebe unterlagen nicht dem Druck, effizient sowie kosten- und rohstoffsparend zu produzieren. Die Betriebe handelten also ‚wirtschaftlich‘ rational, indem sie geringfügige Strafen zahlten und keine teuren Klärwerke bauten. Zwar waren erste öffentliche Umweltschutzaktivitäten in den späten vierziger Jahren erkennbar, die sich u.a. in der Publikation einer Zeitschrift für den Naturschutz niederschlug. In der poststalinistischen UdSSR war eine zunehmende Sensibilisierung von Wissenschaft, Partei- und Staatsapparat für den Umweltschutz zu konstatieren: Die Natur wurde nicht mehr als zu überwindender Klassenfeind gedeutet, sondern als Ressource. Das Gewicht dieser Teilöffentlichkeiten reichte nicht aus, den Partei-Staat zu den notwendigen Milliardeninvestitionen allein für den Wasserschutz zu bewegen. Und der Primat der Ökonomie über die Ökologie im Denken der sowjetischen KP-Führung erschwerte ebenso wie die in der UdSSR fehlende Verwaltungsgerichtsbarkeit insgesamt einen nachhaltigen Umweltschutz und verhinderte sogar eine konsequente Anwendung bestehender Richtlinien. Die ökologischen Folgen bis hin zu dem von einigen Wissenschaftlern konstatierten Ökozid der Brežnev-Ära waren unübersehbar.

Manche Fragen bleiben offen. Die Themenauswahl erscheint voluntaristisch: Die drei ersten Kapitel wirken organisch, das fünfte hingegen wie ein Fremdkörper. Die Luftverschmutzung wird nicht thematisiert. Dennoch handelt es sich um eine detaillierte und informative sowie mit einem umfassenden Register versehene Studie über die Gefahren des Lebens in den Städten des Spätstalinismus.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Donald Filtzer: The Hazards of Urban Life in Late Stalinist Russia. Health, Hygiene, and Living Standards, 1943–1953. Cambridge [etc.]: Cambridge University Press, 2010. XXX, 379 S., 5 Ktn., 48 Graph., 42 Tab. ISBN: 978-0-521-11373-1, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Haefner_Filtzer_Hazards_of_Urban_Life.html (Datum des Seitenbesuchs)

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