Der russische Bürgerkrieg. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2006. 230 S. = Forum für osteuropäische Zeitgeschichte, Jahrgang 10, Heft 1.

Das vorliegende Heft der vom Zentralinstitut für Mittel- und Osteuropastudien an der katholischen Universität Eichstätt durch Nikolaus Lobkowicz, Leonid Luks und Aleksei Rybakov herausgegebenen Zeitschrift versucht mit drei Beiträgen, einen thematischen Schwerpunkt auf die Zeit des sowjetrussischen Bürgerkriegs zu legen.

Nikolaus Katzer widmet sich unter der Über­schrift „Räume des Schreckens“ dem Leben und Überleben im russischen Bürgerkrieg. Dabei verfolgt er zwei Aspekte. Zum einen stellt er seinen Beitrag über die alltägliche Gewalt des Bürgerkriegs unter zwei Thesen. Identitäten, Loyalitäten und Überzeugungen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hätten ihre Bedeutung eingebüßt, sich wie in einem Kaleidoskop verändert und neue Konstellationen angenommen. Darüber hinaus sei gerade die Gewalthaftigkeit des Bürgerkriegs Grund für seine Ver­drängung aus der kollektiven Erinnerung ge­wesen. Er sei vielmehr lange Zeit der Katastrophe des Vergessens anheimgefallen und erst in jüngerer Vergangenheit in den Fokus der historischen Aufarbeitung gerückt. Zum zweiten bedient sich Katzer der gegenwärtig beliebten Raumsemantik, um die zwei Dimensionen der Gewaltexzesse, nämlich innere Not und äußere Bedrohung, geographisch und metaphorisch zu kontextualisieren. Seinen Beitrag gliedert er in drei Kapitel, die zugleich Zeitebenen entsprechen, nämlich die Erfahrungen des Erlebens, des Überlebens und des historischen Gedächtnisses. Der anregende Artikel verdeutlicht die Dehumanisierung und Bellifizierung der sowjetischen Gesellschaft als Folge des Bürgerkriegs. Einher damit ging die Disposition der Bol’ševiki zur Gewalt und ihre Neigung, Probleme – wie vor allem die Stalin-Ära zeigen sollte – primär ge­waltsam zu lösen. Darüber hinaus zählten die Verherrlichung der Gewalt und der dazugehörige Kult zur sowjetischen kulturellen Infrastruktur. Der Bürgerkrieg und seine Praktiken wurden zum Mythos, der sich im – allerdings zum Teil von den Bol’ševiki durch ihre Kampagnen initiierten – kollektiven Gedächtnis der Menschen zementierte.

Der Beitrag Boris Chavkins über „Die Ermor­dung des Grafen Mirbach“, des deutschen Gesandten in Sowjetrussland, Anfang Juli 1918 fällt durch seine Einseitigkeit auf. Dieser diplomatische Zwischenfall war wiederholt Objekt dog­matischer Auseinandersetzungen und monokausaler Thesenbildung. Chavkins Beitrag steht in dieser Tradition. Er präsentiert den Vorsitzenden der ČK, Feliks Ė. Dzeržinskij, als Urheber des Attentats, ohne jedoch dafür überzeugende Belege anzuführen. Zwar mag Dzeržinskij den linken Kommunisten, Lenins innerpartei­lichen Opponenten, die den Frieden mit den „imperialistischen“ Mittelmächten ablehnten, ideo­logisch nahegestanden haben, doch war dies bereits ein hinreichendes „Tatmotiv“? Den Nachweis hierfür tritt Chavkin nicht an. Vielmehr verliert er sich in Nebensächlichkeiten, kon­textualisiert seinen Beitrag nur unzureichend und lässt genauere Kenntnisse des Forschungsstandes vermissen. Entweder werden be­tagte Titel referiert oder aufgrund ihrer Populärwissenschaftlichkeit zweifelhafte neuere Posi­tionen (z.B. die von Elisabeth Heresch) präsentiert. Die neuere russische bzw. westliche Literatur fand jedenfalls in diesem Aufsatz keine Berücksichtigung. Der Aufsatz ist „reißerisch“ und erinnert beispielsweise an die auch vom Magazin „Der Spiegel“ aufgegriffene These, dass das Deutsche Reich die Russische Revolution 1917/18 finanziert und die entscheidenden Akteure – vor allem unter den Bol’ševiki – wie Marionetten geführt habe (S. 92–93).

Die Präsentation einer im RGASPI (dem Russischen Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte), fond 76, delo 21 verwahrten Archivalie, die Aussagen des ČK-Vorsitzenden F. Ė. Dzeržinskijs zum „Mord am deutschen Gesandten Graf Mirbach“ Anfang Juli 1918 enthält, soll diesen thematischen Schwerpunkt abrunden. Wie schon beim Aufsatz Chavkins zu diesem Thema erweist sich die Dokumentation als sehr fragwürdig, um nicht zu sagen überflüssig. Insofern ist auch der Aussage von Leonid Luks in seiner Einführung zu wi­dersprechen (S. 7), dass es sich um eine aufschlussreiche Quelle handele. Das Dokument war bereits im sog. „Rotbuch“ der sowjetischen Geheimpolizei, der ČK, abgedruckt, das ursprünglich 1920 und in einer überarbeiteten Neuauflage 1989 publiziert wurde (Krasnaja kniga VČK, t. 1, S. 252–261). Zwar ließe sich argumentieren, dass eine Übersetzung ins Deutsche bislang nicht vorlag, doch angesichts einer sparsamen Kommentierung – selbst auf Kurzbio­graphien der erwähnten Personen wurde weitgehend verzichtet, von einer Einführung in den zeitgenössischen Kontext ganz zu schweigen – ist der Ertrag dieser Publikation eher gering zu veranschlagen. Ärgerlich ist im Übrigen, dass im Kommentar beispielsweise von VČK-Kommission die Rede ist (S. 197, Anm. 4), obwohl der letzte Buchstabe des Akronyms ebendafür steht.

Einen faszinierenden Einblick in das Denken der sog. „Neo-Eurasier“ am Beispiel eines ihrer Chefideologen gibt Andreas Umland in seinem Bei­trag „Postsowjetische Gegeneliten und ihr wachsender Einfluss auf Jugendkultur und Intellektuellendiskurs in Russland. Der Fall Alek­sandr Dugin (1990–2004)“. Er verdeutlicht, dass sich in Russland in den letzten Jahrzehnten teils autochthon, teils unter Mitwirkung von „Eu­rofaschisten“ ein ideologisches Konstrukt entwickelt hat, das sich auf die „eurasische Tradition“ der Zwischenkriegszeit beruft. Dies sei aber ein legitimationsstrategischer Etikettenschwindel, der das Ausmaß des rechtsextremistischen Einflusses verschleiern solle. Du­gins Weltanschauung basiere auf dem Denken der „Konservativen Revolution“ im Zwischenkriegsdeutschland und der heutigen westeuropäischen sog. „Neuen Rechten“, auf aggressivem geopolitischen Denken sowie eklektischen Elementen des Mystizismus, des Okkulten und von Weltverschwörungstheorien. Aufschlussreich ist vor allem der Überblick über Dugins umfängliche Verlagstätigkeit und die Auflagenhöhen der Publikationen, die seiner Akzeptanz im politischen Establishment der Russländischen Föderation Vorschub geleistet haben dürften.

Abgerundet wird das vorliegende Heft durch drei Beiträge der Herausgeber. In seinem kurzen Essay „Der Abschied vom Klassenkampf“ wür­digt L. Luks die Verdienste M. S. Gorba­čevs und B. N. El’cins um die Demokratisierung der Gesellschaft der zerfallenden UdSSR und der im Entstehen begriffenen Russischen Fö­deration. A. Rybakov geht es in seinem Aufsatz „Architektonische Modelle im Totalitarismus und die Platonische Idee“ um die Bedeutung architektonischer Modelle als Sinnbilder der totalitären Utopien im Stalinismus und im Nationalsozialismus. Nikolaus Lobkowicz thema­tisiert in seinem Artikel die Rezeption Hegels und Marx’ in der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Frankfurter Schule.

Als Fazit bleibt, dass der thematische Schwer­punkt etwas aufgesetzt wirkt und dass auf zwei der drei Beiträge durchaus hätte ver­zichtet werden können. Insgesamt aber zeigt das Heft die Bandbreite der Ideengeschichte.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Der russische Bürgerkrieg. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2006. 230 S. = Forum für osteuropäische Zeitgeschichte, Jahrgang 10, Heft 1. ISSN: 1433-4887, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 448-449: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Forum_10-1.html (Datum des Seitenbesuchs)