Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 473-475

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Sylvia Hahn: Historische Migrationsforschung. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2011. 233 S. = Historische Einführungen, 11. ISBN: 978-3-593-39398-8.

Ausgehend von der Überlegung, dass Menschen immer in Bewegung waren und ihre Mobilität dabei weder an regionalen noch nationalstaatlichen Grenzen endete, steht im Mittelpunkt der Untersuchung die Migration von sozialen Gruppen, Familien bzw. Berufsverbänden, ohne dass darüber aber die individuelle Perspektive, das Einzelschicksal aus den Augen verloren würde (S. 13).

Die Darstellung, die ein Plädoyer für die Verzahnung mikro- und makrohistorischer Untersuchungsebenen ist, besteht aus neun Kapiteln. Diese weisen eineallerdings im Inhaltsverzeichnis nicht ausgewiesenesehr kleinteilige Binnenstruktur mit bis zu acht Unterpunkten auf. Das erste Kapitel versucht in einem Längsschnitt von den Anfängen menschlicher Zivilisation bis in die Gegenwart die Bedeutung von Mobilität und Migration zu verdeutlichen. Dabei formuliert die Überschrift Homo und femina migrans eines der Kernanliegen der Verfasserin: Sie plädiert für eine genderspezifische Analyse der Migrationsvorgänge. Die Rolle der Frau, so die These, beschränkte sich keineswegs darauf, bloß an der Seite ihres Mannes mitzuziehen. Im zweiten Abschnitt werden Begriffe, Typologien, Theorien und Definitionen der Migration vorgestellt. Für ihre eigenen Ausführungen rekurriert die Verfasserin zum einen auf die Definition der Vereinten Nationen, die unter Migration einen die Grenzen eines politischen Bezirks überschreitenden dauerhaften Wohnortwechsel mit der Mindestdauer von einem Jahr versteht. Zum anderen bezieht sie sich auf den deutschen Historiker Peter Marschalck, der eine weite und eine enge Definition von Migration vorschlägt. Demnach ist unter Migration im engeren Sinne jede Ortsveränderung unter Ausschluss von Dienst-, Erholungs- oder Studienreisen, aber einschließlich des Nomadisierens oder Pendelns zu verstehen oder im weiteren Sinne jedeOrtsveränderung mit dauerhaftem Wechsel des Wohnortes(S. 25–26). Darüber hinaus stellt die Verfasserin verschiedene Typologisierungsangebote der Migration vor: Dazu zählen die regionale, die sich maximal bis zu 50 km vom Ausgangspunkt entfernende Kurzstrecken-, die Langstrecken-, die Etappen-, die temporäre bzw. saisonale Migration, die Zwangs-, die zirkuläre, die Ketten- oder die Karrieremigration. Sie betont mit Rekurs auf den US-Historiker und Soziologen Charles Tilly die Bedeutung sozialer Netzwerke, die, positiv gewendet, ein Band der Solidarität sein können, negativ aber durch Formen der In- und Exklusion soziale Ungleichheit schaffen respektive zementieren können (S. 27 ff.). Bei den Theorieangeboten zur Migration unterscheidet die Verfasserin zunächst im Wesentlichen zwei Schulen, nämlich eine ökonomische und zweitens eine, die eher auf politische bzw. soziokulturelle Aspekte als Ursachen der Migration abhebt. Dieser Teil leitet zum dritten und umfangreichsten Kapitel über. Unter dem Titel Schreiben über Migration geht es einerseits um unterschiedliche Formen des Quellenzugriffs, die für migrationsgeschichtliche Untersuchungen fruchtbar gemacht werden können, von Melderegistern, über Polizey-Ordnungen, Pfarrmatrikel bis hin zu Bevölkerungsstatistiken, sowie um Forschungskonjunkturen und wesentliche Forschungsimpulse. Anderseits wird unter Rückgriff auf Aussagen des zweiten Kapitels die wissenschaftliche Migrationsforschung des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihren wichtigsten Exponenten und Hauptströmungen von der der historischen Schule der Nationalökonomie über soziologische bis hin zu bevölkerungswissenschaftlichen Herangehensweisen vorgestellt. Bei diesen Ausführungen handelt es sich um ein Kondensat des zweiten Kapitels der 2008 in Göttingen unter dem Titel MigrationArbeitGeschlecht: Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts erschienenen Salzburger Habilitationsschrift. Die beiden folgenden Kapitel sind zeitlich gerahmt, folgen aber gleichwohl einem systematischen Zugriff. Der vierte Teil widmet sich der Migration unterschiedlicher sozialer Gruppen von den Kaufleuten und ihrem Handel über das Handwerk, den Adel bis hin zu Studenten und Künstlern im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Der fünfte Abschnitt behandelt vor allem die ethnokonfessionelle Ausweisung und Vertreibung von Juden und Protestanten, aber auch die politisch motivierten Vertreibungen respektive Emigrationen von Adligen bzw. Radikalen in revolutionären Kontexten von der Frühen Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Das sechste und siebte Kapitel untersuchen die Arbeitsmigration von Kindern und Jugendlichen bzw. von Frauen. Das vorletzte thematisiert die europäische Binnenmigration im 19. Jahrhundert. Die Verfasserin verdeutlicht, dass Migration im Zusammenhang der Industrialisierung und der Erweiterung des Dienstleistungssektors zu einem guten Teil auch in Fabrikdörfer oder Kleinstädte stattfinden konnte. Das Schlusskapitel ist den Migrationen des 20. Jahrhunderts gewidmet: Während die Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften durch das Dritten Reich in den Blick rückt, verliert die Verfasserin leider kein Wort über die unterschiedlichen Zwangsmigrationen in der stalinistischen Sowjetunion.

Insgesamt thematisiert die Darstellung im Gefolge von Adam McKeown, Donna Gabaccia und Dirk Hoerder globalgeschichtliche Aspekte der Migration, ohne allerdings expressis verbis einem globalgeschichtlichen Anspruch verpflichtet zu sein. Dieser wäre auch nur schwerlich mit einem deutlich auf Mitteleuropa liegenden Schwergewicht und der besonderen Berücksichtigung Österreichsdie Verfasserin lehrt an der Universität Salzburgin Einklang zu bringen. Osteuropa im Allgemeinen und Russland im Besonderen werden nur kursorisch thematisiert, wichtige Literatur, beispielsweise Martin Pollacks bemerkenswerte Studie über die transatlantische Emigration aus Galizien, die einschlägigen Darstellungen von Jeffrey Burds oder Robert Eugene Johnson über die bäuerliche Arbeitsmigrationvor allem in die MetropolenAngela Rustemeyers Werk über Dienstboten in St. Petersburg und Moskau oder auch die Monographie Donald W. Treadgolds über die transuralische Migration im Zarenreich fehlen. Einmal mehr ist zu bedauern, dass dieser weder kleine noch unbedeutende Teil der Welt keine Berücksichtigung gefunden hat. Dass bei einem Gesamtumfang von 233 Seiten nicht alles behandelt werden kann, ist verständlich. Ob die Österreich akzentuierende Schwerpunktsetzung der Verfasserin den Verzicht, Migrationen in Osteuropa zu erörtern, rechtfertigt, scheint fraglich. In meinen Augen handelt es sich um einen konzeptionellen Fehler.

Dennoch überwiegen die positiven Aspekte: Das Layout ist sehr übersichtlich. Regesten erlauben eine schnelle Orientierung. Darüber hinaus verweist das Werk immer wieder auf vom Verlag im Internet bereitgestellteErgänzungen zum Buch(vgl. S. 29). Die Darstellung ist ebenso informativ wie konzis und wirdabgesehen von dem bereits erwähnten Monitumihrem Anspruch, in die historische Migrationsforschung einzuführen, insgesamt gerecht. Der systematische Zugriff ist allerdings vor Wiederholungen nicht gefeit. Global- bzw. weltgeschichtliche Aspekte finden sich beispielsweise im 3. Kapitel auf den Seiten 56 und 64. Diese jeweils kurzen Ausführungen hätten durchaus zusammengefasst werden können. Dasselbe gilt für die Transkulturalität, die im zweiten, dritten und vierten Kapitel erwähnt wird. Nichtsdestoweniger handelt es sich um eine gut lesbare, informative Darstellung, deren Lektüre allen, die sich schnell einen Überblick über historische Migrationsforschung verschaffen möchten, zu empfehlen ist.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Sylvia Hahn: Historische Migrationsforschung. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2011. 233 S. = Historische Einführungen, 11. ISBN: 978-3-593-39398-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Hahn_Historische_Migrationsforschung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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