Stefan Karsch Die bolschewistische Machtergreifung im Gouvernement Voronež (1917–1919). Franz Steiner Verlag Stuttgart 2006. 348 S., 1 Kte., 23 Tab. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 71.

Mehr als neunzig Jahre sind seit der Russischen Revolution des Jahres 1917 verstrichen, und noch immer harren die Ereignisse zahlreicher Provinzen der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Allerdings sind die Konturen dieses Mosaiks in den letzten Jahren durch die Studien zu den Städten bzw. Gouvernements von Smolensk, Vjatka, Kazan’, Nižnij Novgorod, Saratov, Tambov, Char’kov, Odessa, dem Dongebiet, Baku und Azerbajdžan deutlicher geworden. Einen weiteren, wichtigen Stein stellt die vorliegende, in Berlin verfasste Dissertation dar.

Als theoretisches Konzept legt der Verfasser das Modell Michael Manns zugrunde, das mit den Strukturdimensionen Politik, Ökonomie, Militär und Ideologie vier „Ressourcen“ unterscheidet. Während Mann unter der ersten „Ressource“ vor allem die Staatsmacht versteht, plädiert Karsch dafür, im Kontext von Revolution und Bürgerkrieg unter dieser Untersuchungsebene insbesondere Institutionen, deren Gründung, deren Handeln, deren Wechselbeziehungen sowohl mit anderen Einrichtungen als auch mit der Gesellschaft, aber auch deren Veränderung bzw. Unterwanderung durch einzelne Akteursgruppen wie beispielsweise die Bol’ševiki zu untersuchen. Die Ausführungen Karschs illustrieren dabei die Schwäche vieler Institutionen. Dies galt keineswegs nur für diejenigen, die auf Traditionen des Ancien régime gründeten wie die zemstva und die gorodskie dumy; auch die lokalen Sowjets, oft noch dazu Kopfgeburten, erfreuten sich nicht unbedingt eines breiten Zuspruchs und verfügten daher auch keineswegs über große Autorität (S. 102–103, 264–265). Diese war nur gegeben, wenn Institutionen über zwei weitere zentrale „Ressourcen“ verfügten: Geld oder die Macht der Bajonette.

Der Erkenntnisgewinn dieser Vierteilung leuchtet allerdings nicht ein. Reichen für eine Gesellschaftsanalyse nicht die drei Strukturdimensionen Herrschaft, Wirtschaft und Kultur aus? Zum einen hat Max Weber in seiner Religionssoziologie darauf hingewiesen, dass materielle und auch ideelle Interessen, nicht aber Ideen bzw. Ideologien handlungsleitend seien. Zum anderen räumt Karsch selbst ein, dass die militärische Macht kaum von den anderen Komponenten einschließlich der Ideologie zu trennen sei, die Grenzen zwischen den Teilbereichen also nicht trennscharf sind, sondern eher voluntaristisch anmuten.

Der Verfasser gliedert den Stoff chronologisch-systematisch in drei Teile. Die beiden ersten inhaltlichen Kapitel behandeln die Zeit zwischen Februar und Oktober 1917 bzw. vom Oktoberumsturz 1917 bis Anfang 1919. Die Binnenstruktur beider Abschnitte ist jedoch systematisch unterteilt in jeweils vier Abschnitte, nämlich Politik, Wirtschaft, Militär und Ideologie. Das dritte und kürzeste inhaltliche Kapitel bricht mit dieser Gliederungsstruktur. Es behandelt die im Bürgerkrieg erkennbaren Zentralisierungstendenzen nicht nur am Beispiel der bolschewistischen Partei und des Militärs, sondern auch bei den kollektiven Akteursgruppen: den Soldaten, den Arbeitern und Städtern sowie schließlich den Bauern. Allen drei Kapiteln ist gemein, dass Karsch ihnen jeweils sowohl einen kurzen ereignisgeschichtlichen Abriss voranstellt als auch am Ende konzis resümiert. Diese kapitelweisen Zusammenfassungen können jedoch den Verzicht auf ein angemessenes Schlusskapitel – dieses hat lediglich drei Seiten – nicht kompensieren. Dies bleibt ein Monitum.

Im Mittelpunkt der Studie steht die Frage, wie es den Bol’ševiki in einem agrarisch strukturierten Gebiet, das auch in der Gouvernementsstadt Voronež mit etwa 100.000 Einwohnern und den zwölf überwiegend kleinen Kreisstädten keine nennenswerten Industrieansiedlungen aufwies (S. 14, 53ff.), gelang, die politische Macht zu erobern und während des Bürgerkriegs zu behaupten. Karsch dekonstruiert nachdrücklich den Mythos der Bol’ševiki als monolithische, gut geführte und straff organisierte Kaderpartei. Die Bol’ševiki in Voronež waren nichts von alledem – vor allem auch gemessen an den Sozialrevolutionären (PSR), die auf dem flachen Land gut organisiert waren und über charismatische Persönlichkeiten verfügten (S. 21–22, 28, 31–32). Die Voronežer Bol’ševiki waren nahezu im gesamten Untersuchungszeitraum eine quantitativ und qualitativ – auch in Bezug auf das intellektuelle Potential der Parteiführer – unbedeutende Organisation, die in der Gouvernementsstadt im Oktober 1917 ca. 1.000, nach dem Zerfall der Garnison zwei Monate später aber nur noch 200 Mitglieder zählte. In den Kreisen war die Situation keineswegs besser. Hier existierte die Partei vielerorts überhaupt nicht, und im gesamten Gouvernement gab es im Dezember 1918 bei einer Bevölkerung von ca. 3,3 Mio. Menschen ca. 2.500 Mitglieder; nach abweichenden Angaben machten sie max. 0,2% der Einwohner aus (S. 75, 151, 160–164). Wiederholt entsandte die hauptstädtische Parteizentrale Propagandisten und Emissäre, und im Sommer 1919 enthob Lazar’ M. Kaganovič endgültig die lokalen Parteikader ihrer Funktionen und stellte die unter Korruptionsverdacht stehende Voronežer Organisation unter Moskauer Kuratel (S. 43, 166, 302–305). Die soziale Basis der Bol’ševiki war ephemer: Mit der Machtübernahme der Bol’ševiki gingen die Soldaten, auch wenn es ihnen der Rat der Volkskommissare untersagte, nach Hause. Massendesertionen waren an der Tagesordnung. Mit der um sich greifenden Wirtschaftskrise und der Bedrohung durch den Bürgerkrieg verflüchtigte sich die ohnehin schmale proletarische Basis: Viele kehrten aufs Dorf zurück, andere suchten sich besser dotierte Posten in der Verwaltung, der Čeka oder auch der Roten Armee (S. 104, 184, 208, 280).

Karsch gelingt es in seiner Untersuchung immer wieder zu verdeutlichen, dass parteipolitische Meinungsführerschaft temporärer Natur war und dass die kollektiven Akteure, die Arbeiter, Bauern und Soldaten, sich sehr schnell von den Positionen der jeweiligen Parteien emanzipierten, wenn sie nicht mit ihren Interessen kongruent waren. Zum einen führt er überzeugend den Nachweis, dass die Popularität der Partei der Sozialrevolutionäre (PSR) weitgehend eine Fiktion war. Das von den intellektuellen Führern der PSR ausgearbeitete Agrarprogramm mit seinem zentralen Postulat einer Sozialisierung des Bodens mag zwar den Aspirationen der Bauern weit mehr entsprochen haben als die von der russischen Sozialdemokratie – Bol’ševiki wie men’ševiki gleichermaßen – propagierte Nationalisierung, doch waren die Bauern weit entfernt davon, Parteiprogramme als Richtschnur ihres Handelns zu betrachten. Die Bauernbewegung des Jahres 1917 aber einzudämmen, war die PSR, wollte sie sich nicht um ihren Einfluss bringen, außerstande. Insofern erinnerte die Lage der PSR an den Zauberlehrling, der die selbst verursachte Entfaltung elementarer Kräfte nicht mehr bannen konnte (S. 93–94). An der bäuerlichen Haltung in der Versorgungsfrage scheiterten 1917 die Provisorische Regierung, ihre Kommissare vor Ort, aber auch die bis zum Oktober 1917 dominierenden Parteien im Voronežer Sowjet, men’ševiki und PSR. Im Bürgerkrieg waren es dann die Bol’ševiki, die im Wesentlichen die Politik der Provisorischen Regierung implementierten. Der entscheidende Unterschied bestand in der Konsequenz: Während die Provisorische Regierung vor der „Erlkönig“-Methode: „[…] und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt“ zurückscheute, waren die Bol’ševiki bereit, über Waffengewalt bei der Getreideaufbringung nicht nur zu reden, sondern sie auch zu praktizieren. Die Bauern kündigten als Konsequenz und wegen der Rekrutierungen zur im Aufbau befindlichen Roten Armee ihre Loyalität, die sie gegenüber dem neuen Regime von Herbst 1917 bis Frühjahr 1918 an den Tag gelegt hatten, auf (vgl. S. 110ff., 273ff., 319ff.) Sie konnten sich aber letztlich in dieser asymmetrischen Gewaltbeziehung nicht behaupten.

Aber auch die Politisierung der Arbeiter hielt sich in Grenzen: Kulturelle Distanz, Neid und das Gefühl relativer Deprivation bestimmten ihre ablehnende Haltung gegenüber der Zensusgesellschaft. Ökonomische Forderungen wie die nach Arbeitsplatzsicherheit und Reallohnsteigerungen bestimmten ihr Handeln, das immer weniger auf konsensuelle Konfliktregelungsmodi setzte. Seit Mai 1917 unterstützten Sowjet und Gewerkschaften die Forderungen wiederholt nicht. Das gegenseitige Misstrauen wuchs, und die Legitimationsbasis des Sowjets war relativ schmal: Die Beteiligung bei den Sowjetwahlen 1917 beziffert Karsch mit lediglich 20 %. Zwar brachte die Radikalisierung die Arbeiter den Bol’ševiki näher, aber eine Bolschewisierung war alles andere als zwangsläufig und wenn, dann nur transitorisch (S. 64, 73–74, 77, 97ff.). Spätestens die der wirtschaftlichen Zerrüttung geschuldeten Fabrikschließungen 1918 sowie der sog. Kriegskommunismus entfremdeten die Arbeiter dem neuen Regime, so dass die Bol’ševiki im eigentlichen Sinne über keine proletarische Basis verfügten (S. 113). Das größte Gefahrenpotential für die öffentliche Sicherheit im Gouvernement stellten im Verlauf des Jahres 1917 die Garnisonen mit ihren 40.000 zunehmend undisziplinierten Soldaten dar. Von ihnen ging nicht nur politische Instabilität, sondern auch ein beträchtliches Kriminalitäts- und Gewaltpersonal aus (S. 79ff., 98, 100).

Zu den Schwächen der Darstellung gehören nicht nur diverse Wiederholungen, sondern auch partiell eine semantische bzw. terminologische Indifferenz. So verwendet Karsch mehrfach den Begriff Stadtbürgertum, z.T. ergänzt durch das Adjektiv etabliert. Angesichts des normativen Charakters des Terminus sowie der autochthonen Entwicklung der Geschichte des Zarenreichs wäre es wahrscheinlich angemessener gewesen, von Zensusgesellschaft oder städtischen Eliten zu sprechen (S. 72, 78, 82). Zu bedauern ist ferner, dass Karsch den negativ konnotierten politischen Kampfbegriff der „rechten“ Sozialrevolutionäre als analytische Kategorie seiner Darstellung übernommen hat – eine Unterscheidung zwischen den Mitgliedern der PSR, deren Führungspersonal in Voronež (z.B. M. L. Kogan-Bernštejn) im PSR-internen Spektrum links der Mitte angesiedelt war, und ihrer radikaleren Abspaltung, den linken SR, wäre ausreichend gewesen (S. 122, 126, 156, 271).

Diese Kritik soll jedoch keinesfalls die bemerkenswert akribische Forschungsleistung schmälern. Karsch hat nicht nur die einschlägigen Moskauer, sondern auch Staats- und Parteiarchive in Voronež und darüber hinaus die Akten der Heimatkundemuseen von Voronež und Ostrogožsk ausgewertet. Dieser Quellenkorpus wird durch die Auswertung eines knappen Dutzends zeitgenössischer Presseorgane ergänzt. Die Studie zeigt, dass es keineswegs die Stärke der lokalen Bol’ševiki als vielmehr die in kritischen Situationen von außen kommende Hilfe der Roten Armee sowie die Schwäche ihrer Gegner war, die Lenins Partei im Bürgerkrieg obsiegen ließ. Gerade die angesichts des täglichen Kampfs um das nackte Überleben oft auf politisches Engagement verzichtende Bevölkerung trug entscheidend zur Verfestigung der bolschewistischen Herrschaft bei. Mehrere Statistiken, ein Sachregister und zwei Karten des Gouvernements Voronež runden diese gelungene Studie ab.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Stefan Karsch: Die bolschewistische Machtergreifung im Gouvernement Voronež (1917–1919). Franz Steiner Verlag Stuttgart 2006. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 71. ISBN: 978-3-515-08815-2, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Karsch_bolschewistische_Machtergreifung.html (Datum des Seitenbesuchs)