Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 459-460

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Aleksej M. Lipčanskij, Elena G. Timofeeva, Sergej V. Lebedev, Petr V. Kazakov: Stolica preslavnoj provincii. Istorija astrachanskogo gorodskogo obščestvennogo samoupravlenija [Die Hauptstadt der ruhmreichen Provinz. Die Geschichte der städtischen Selbstverwaltung Astrachans]. Astrachan: Astrachanskij universitet, 2008. 306 S., Abb. Tab. ISBN: 978-5-9926-0214-2.

Die Darstellung setzt sich zum Ziel, 450 Jahre Geschichte der Stadt Astrachan zu beleuchten. Im Zuge der territorialen Expansion des Moskauer Staats eroberte Ivan IV. 1556 das Khanat von Astrachan. Die an der Wolga in unmittelbarer Nähe des Kaspischen Meeres gelegene Stadt bildete seinerzeit nicht nur den imperialen Vorposten an der südlichen Peripherie, sondern zeichnete sich zugleich durch ihre handelspolitische Brückenfunktion zum Orient aus: Sie war das „Fenster nach Asien“ und damit der Gegenentwurf zu der eineinhalb Jahrhunderte später gegründeten Hauptstadt St. Petersburg.

Das Werk ist chronologisch gegliedert. Von den vier inhaltlichen Kapiteln beschäftigt sich das erste mit der städtischen Gesellschaft und den Organen der städtischen Verwaltung vom 16. Jahrhundert bis zum Ende der Katharinäischen Epoche. Das zweite und mit annähernd der Hälfte des Gesamtumfangs längste Kapitel thematisiert das 19. Jahrhundert. Allerdings werden die ersten 70 Jahre auf einem Dutzend Seiten vergleichsweise kursorisch abgehandelt, um dafür umso detaillierter die Situation der städtischen Selbstverwaltung seit der Stadtreform des Jahres 1870 sowie der sog. Gegenreform von 1892 erörtern zu können. Das dritte Kapitel ist der städtischen Entwicklung in der Sowjetzeit gewidmet. Allerdings wird dieses Dreivierteljahrhundert sehr ungleichmäßig behandelt. Der Revolution, dem Bürgerkrieg sowie den 1920er und 1930er Jahren wird mehr Beachtung beigemessen als der Zeit danach. Dieser Zeitraum wird, mit Ausnahme eines kurzen Unterpunktes über die Jahre des Zweiten Weltkriegs, unter dem Blickwinkel der ökonomischen Entwicklung als eine Art Leistungsschau thematisiert. Das vierte und letzte Kapitel ist nicht mehr als ein Epilog: Auf lediglich zehn Seiten behandelt es die postsowjetische Ära.

Zu bedauern ist, dass die Verfasser sowohl auf eine Zusammenfassung als auch auf eine Einleitung verzichtet haben. Weder Fragestellung noch Forschungsstand werden erörtert. Im Grunde ist das Werk ein Zwitter aus heimatkundlicher und zur Detailfülle neigender wissenschaftlicher Darstellung. Allerdings weisen die Ausführungen wenigstens drei Defizite auf: Erstens fehlt ein systematisierender Zugriff. Im Grunde bleibt die Entwicklung der Stadt Astrachan bis zum Ende diffus. Ein Manko ist, dass gänzlich auf Karten verzichtet wurde, die es dem Leser erlaubt hätten, das Wachstum der Stadt im Laufe der Jahrhunderte nachvollziehen zu können. Ferner fehlen grundsätzliche Informationen, beispielsweise über die Entwicklung der städtischen Bevölkerung, ihre ethnische, religiöse und sozioökonomische Zusammensetzung sowie über die soziale Geographie der Stadt, d.h. hinsichtlich einer etwaigen regionalen oder, evt. wie in den beiden Hauptstädten, vertikalen sozialen Segregation. Die Verfasser präsentieren lediglich einzelne Angaben, die aber wenig über den Grad der Dynamik der Entwicklung in dem Zeitraum von 1870 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs bzw. bis zur Revolution von 1917 zulassen.

Warum einzelne Aspekte erörtert, andere weggelassen werden, bleibt für den Leser ein Geheimnis. Wiederholt werden Namen genannt, die dem Spezialisten der Geschichte Astrachan’s etwas sagen dürften, nicht aber dem Rezensenten. Warum sind diese Personen wichtig, was zeichnete sie aus, welche Rolle spielten sie im städtischen Leben etc. (S. 88, 95)? Nach der Revision der städtischen Selbstverwaltung im Jahre 1892 wurde die städtische Duma in sechs Wahlkreisen gewählt. Wahlen erhielten dadurch eine stadtteilpolitische Brisanz, über die die Verfasser leider hinweggehen. Dabei wäre es doch spannend gewesen zu erfahren, wo die Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede in einer stärker regionalisierten Wahl gelegen haben (S. 88)? Wie waren die Stadtteile geschnitten? Gab es ähnliche Probleme wie beispielsweise bei den Parlamentswahlen in England im 19. Jahrhundert mit den sog. rotten boroughs, dass also Wahlkreise bewusst eigenwillig gezogen wurden, um Mehrheiten zu sichern? Das Potential, das in dem lokalen Material der Stadt Astrachan zu stecken scheint, haben die Autoren leider nicht annähernd genutzt.

Zweitens wird die Relevanz vieler Informationen nicht verdeutlicht. Welchen Erkenntnisgewinn bergen die zahlreichen Schaubilder und Statistiken, wenn sie nicht kontextualisiert werden? Es fehlen leider oft  Vergleichsparameter, um die präsentierten Informationen verorten zu können.

Drittens schließlich wird der Leser mit den Informationen allein gelassen, weil allzu oft eine Interpretation unterbleibt. Dies ist umso mehr zu bedauern, als die Darstellung mit einer faszinierenden Detailflut aufzuwarten vermag, wie z.B. der Schilderung des Ar­beits­alltags eines Mitglieds des Stadtmagistrats (S. 105) und der  intensiven Bemühungen des persönlichen Ehrenbürgers P. S. Krav­čenko, zugleich Bürgermeister Astrachans in den Jahren von 1913 bis 1916, eine aus Spezialisten rekrutierte städtische Leistungsverwaltung aufzubauen. Bei diesem Beispiel bleiben allerdings manche Fragen unbeantwortet: Wie veränderte sich quantitativ und qualitativ die städtische Selbstverwaltung? Mit welchen Ausgaben war diese Politik des Bürgermeisters verbunden, welche Auswirkungen zeitigte sie auf eine Stadt, die – wie viele andere im Zarenreich auch – mit beträchtlichen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte (S. 112f.)?

Darüber hinaus bleibt zu fragen, ob das hier gezeichnete Bild einer strengen Kontrolle der städtischen Selbstverwaltungsorgane durch die nachgerade ubiquitäre Präsenz des Gouverneurs und seiner Administration tatsächlich der Realität entsprach (S. 103). Belege und Beispiele, die diese Behauptung stützen, fehlen hier, werden aber im Rahmen des folgenden Kapitels über die wirtschaftliche Tätigkeit der Stadtduma erwähnt, jedoch ohne offenkundige Widersprüche aufzulösen. Wäre die Kontrolle tatsächlich so strikt gewesen, hätte dann nicht das eine oder andere munizipale „Panama“, sprich Amtsmissbrauch, Veruntreuungen und andere Delikte, verhindert werden können (S. 115 f)?

Die Ausführungen zu Revolution und Bürgerkrieg sind relativ kurz. Die Verfasser üben durchaus Kritik an Willküraktionen der Bolschewiki. Zugleich machen sie deutlich, dass die Partei alles andere als monolithisch war. Mitte Mai 1918 ergriff ein profilierter Genosse emphatisch Partei für die Stadtduma, wandte sich gegen deren Auflösung und befürwortete, dass sie und nicht der Stadtsowjet die lokale Selbstverwaltung ausüben solle. Sein Appell konnte die herrschende Meinung im Sowjet nicht ändern. Drei Tage später löste der Sowjet die Stadtduma als eine der letzten in Sowjetrussland auf (S. 208 ff, 214). Die Ausführungen zu den Sowjets als Organen der lokalen Selbstverwaltung beschränken sich mit Rekurs auf die Verfassung der RSFSR und Dekrete der Sowjetregierung im Wesentlichen auf juristische Aspekte. Auswirkungen der Säuberungen der Stalinära auf die Funktionalität bzw. Zusammensetzung des lokalen Sowjets fehlen. Kritik an Stalin wird nicht geübt. Insgesamt wird ein positivistisches Bild der sowjetischen wie der postsowjetischen Ära gezeichnet.

Am Ende bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Konzeptionell hätte ein Verzicht auf die beiden letzten Kapitel, die nichts anderes als ein oberflächlicher und verzichtbarer Appendix sind, dem Werk mit einer Beschränkung auf die Darstellung der lokalen Selbstverwaltung bis zur Auflösung der Stadtduma im Frühjahr 1918 zum Vorteil gereicht. Ungeachtet der Defizite dieser Studie dürfte ihre Lektüre zumindest für den wohl kleinen Kreis derer, die sich mit der Lokalgeschichte Astrachan’s oder der Stadtgeschichte des Zarenreichs im Allgemeinen beschäftigen, von Nutzen sein.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Aleksej M. Lipčanskij, Elena G. Timofeeva, Sergej V. Lebedev, Petr V. Kazakov: Stolica preslavnoj provincii. Istorija astrachanskogo gorodskogo obščestvennogo samoupravlenija [Die Hauptstadt der ruhmreichen Provinz. Die Geschichte der städtischen Selbstverwaltung Astrachan’s]. Astrachan’: Astrachanskij universitet, 2008. ISBN: 978-5-9926-0214-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Lipcanskij_Stolica_preslavnoj_provincii.html (Datum des Seitenbesuchs)

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