Michael Melancon The Lena Goldfields Massacre and the Crisis of the Late Tsarist State. Texas A&M University Press College Station, TX 2006. XI, 238 S., 3 Ktn., 19 Abb., Tab. = Eugenia and Hugh M. Stewart ‘26 Series on Eastern Europe.
Melancon hat sich mit zahlreichen Publikationen zum ausgehenden Zarenreich und der Russischen Revolution 1917 einen Namen gemacht. Stand im Mittelpunkt seiner bisherigen Veröffentlichungen immer wieder die Partei der Sozialrevolutionäre, so wählte er für die vorliegende Untersuchung ein anderes Sujet, nämlich den wegen unzureichender Qualität der Lebensmittel Ende Februar 1912 beginnenden Streik der Arbeiter auf den Goldfeldern an der Lena, dem russischen Dorado. Zarisches Militär schlug den Streik am 4. April des Jahres blutig nieder: Mehrere hundert Tote und Verletzte waren die Folge.
Diese fundierte sozialgeschichtliche Untersuchung basiert neben den einschlägigen Akten der Geheimpolizei und dem Untersuchungsbericht der Senatorenrevision des ehemaligen Justizminsters S. S. Manuchin, die im Moskauer Staatsarchiv der Russländischen Föderation lagern, vor allem auf einer bemerkenswert breiten Auswahl regionaler und hauptstädtischer Presseorgane jeglicher politischer Couleur.
Die Monographie besteht neben Einleitung und Schluss aus sechs Kapiteln. Dabei stecken die einführenden ersten drei den Rahmen ab: Während das erste der Vorgeschichte des Goldsuchens an der Lena und dem Wandel seiner gesetzlichen Bestimmungen gewidmet ist, thematisiert das folgende die von „Lenzoto“ [Lenskoe zolotopromyšlennoe tovariščestvo; Lena Goldschürfgesellschaft] organisierte und später monopolisierte Goldförderung. Eingehend analysiert der Verfasser für den Zeitraum von der Bauernbefreiung bis zum Massaker die Arbeits- und Lebensbedingungen, die geringen Löhne und hohen Konsumpreise. (S. 46, 53–56, 67) Die Tatsache, dass der bedeutende Bankier G. E. Gincburg seit 1882 ein großes Aktienpaket des „Lenzoto“ hielt, führte gerade in der konservativen Presse zu antisemitischen Tiraden. Realiter war „Lenzoto“ aber eine Aktiengesellschaft, die nicht nur seit 1908 einen hohen britischen Kapitalanteil, sondern auch engste Kontakte zu Regierungskreisen und einen nahezu unbegrenzten Kreditrahmen bei der Staatsbank besaß. Die Interessen letzterer vertrat der „Lenzoto“-Direktor I. N. Belousov – der das Massaker zu verantworten hatte. Das dritte Kapitel ist der Arbeiterschaft, ihrer Unzufriedenheit aufgrund langer Arbeitstage von zunächst 15, später 11 Stunden Länge (S. 73) und den Arbeitskämpfen seit 1842 gewidmet. Die abschließenden drei Kapitel stellen den Kern der Untersuchung dar. Kapitel vier und fünf beschäftigen sich zum einen mit dem Streik und seiner blutigen Niederschlagung, zum andern mit den konfligierenden Interpretationen dieses Ereignisses. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um zwei Deutungsmuster: Eines machte die Arbeiter für die Eskalation des Streiks verantwortlich, das andere die Intransigenz von „Lenzoto“. Der Verfasser bezieht aufgrund seiner Analyse einen klaren Standpunkt, indem er die Verhaftung der Streikführer und das Massaker als illegalen Willkürakt bezeichnet. Das letzte Kapitel stellt eine kondensierte Fassung eines in der Zeitschrift „Revolutionary Russia“ 2002 publizierten umfangreicheren Aufsatzes dar. Hier wird die öffentliche Meinung, die nahezu einhellig den brutalen Militäreinsatz verurteilte, fokussiert. Zahlreiche Teilöffentlichkeiten werden ins Blickfeld gerückt wie z.B. die Studentenschaft, aber auch die politischen Parteien und insbesondere die Debatten in der Staatsduma. Für die politischen Parteien stellte das Massaker ein willkommenes Forum dar, sich zu profilieren, standen doch die Wahlen zur IV. Staatsduma für den Herbst des Jahres auf der politischen Tagesordnung.
Nicht nur das Massaker, sondern auch die Charakterisierung der Ereignisse durch Innenminister N. E. Makarov sorgten für flammende Proteste der gesamten russischen Öffentlichkeit mit Ausnahme der konservativen. Am 11. April 1912 erklärte Makarov in der Staatsduma: „Wenn eine Menschenmenge, die unter dem Einfluss bösartiger Agitatoren den Verstand verloren hat, sich auf das Militär stürzt, dann bleibt den Soldaten nichts anderes übrig, als zu schießen. So war es, und so wird es künftig sein.“ Makarov formulierte damit jene Agitationsthese, die sich Ancien régime und Konservative zu Eigen gemacht hatten. Er evozierte nicht nur eine brillante Sottise des menschewistischen Abgeordneten G. S. Kuznecov, der die Auffassung vertrat, dass die Rede des Innenministers eine bessere Propaganda als alle sozialistischen Pamphlete gewesen sei. Tatsächlich, und dies weist Melancon überzeugend nach, bestand in der Duma auch die Möglichkeit einer übergreifenden Koalition der Abgeordneten von obščestvo (Gesellschaft) und narod (Volk). An diesem Beispiel erschüttert Melancons Darstellung L. H. Haimsons über mehrere Jahrzehnte wirkungsmächtige These der „doppelten Polarisierung“.
Die Darstellung ist – ungeachtet weniger Wiederholungen, z.B. eines russischen Zitats mit abweichender Übersetzung (S. 163, 166) – konzis und fesselnd. Zu bedauern ist, dass Melancon, den umfangreichen, sowohl auf Russisch als auch auf Deutsch publizierten Aufsatz Manfred Hagens „Das Lena-Blutbad 1912 und die russische Öffentlichkeit“ nicht herangezogen hat. Drei Karten, zahlreiche Tabellen und Statistiken, ein gutes Dutzend Photographien sowie ein Personen- und Sachregister runden die vorliegende Monographie ab. Das Werk eröffnet keine bahnbrechend neue Perspektive, stellt aber – als erste in englischer Sprache – eine solide, sozialgeschichtlich fundierte Darstellung des Lena-Massakers dar. Die Lena-Ereignisse führten zu zahlreichen Solidaritätsadressen und ‑streiks. Daher sind sie oft als der Auftakt zu einer neuen proletarisch-revolutionären Offensive gegen das Kapital gesehen worden, die 1917 im Untergang des Ancien régime münden sollte.
Lutz Häfner, Bielefeld
Zitierweise: Lutz Häfner über: Michael Melancon: The Lena Goldfields Massacre and the Crisis of the Late Tsarist State. Texas A&M University Press College Station, TX 2006. XI, 238 S., 3 Ktn., 19 Abb., Tab. = Eugenia and Hugh M. Stewart ‘26 Series on Eastern Europe. ISBN: 1-58544-474-X: 1-58544-508-8, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Melancon_The_Lena_Goldfields_Massacre.html (Datum des Seitenbesuchs)