Men’ševiki v bol’ševistskoj Rossii 1918–1924. Men’ševiki v 1922–1924 gg. [Die Men’ševiki im bolschewistischen Russland 1918–1924. Die Men’ševiki in den Jahren 1922–1924]. Otv. red. Z. Galili, A. Nenarokov. Izdat. Rosspėn Mos­k­va 2004. 727 S. = Političeskie partii Rossii. Ko­nec XIX – pervaja tret’ XX veka. Dokumental’noe nasledie.

Der vorliegende Band bildet den Abschluss der umfangreichen Quellenedition zur Geschichte der Men’ševiki seit der Russischen Revolution von 1917. Für die fast neunzig Seiten umfassende Einleitung zeichnen fünf Autoren verantwortlich – neben Al’bert Nenarokov auch die internationalen Menschewismus-Experten And­rea Panaccione und André Liebich. Sie bezeichnen den Untersuchungszeitraum 1922 bis 1924 als die „Phase des Zusammenbruchs des sozialdemokratischen Untergrunds im bolschewistischen Russland“ einschließlich der Zerschlagung ihres dortigen Führungsgremiums, des Büros des ZK.

211 Dokumente haben Aufnahme in diesen Band gefunden: Ein gutes Drittel entfällt auf die Ereignisse des Jahres 1922, fast die Hälfte beschäftigt sich mit dem Jahr 1923, ein Fünftel ist dem Jahr 1924 vorbehalten. Ein 75 Seiten umfassender Anhang – der u.a. Dokumente der Geheimpolizei über Repressionen gegen die politische Opposition in der Sowjetunion, Protokollauszüge des Polit- und Organisationsbüros der Russ­ländischen Kommunistischen Partei [RKP], Briefe einiger Parteiführer der Bol’ševiki, eine Übersicht über die Pseudonyme führender Men’ševiki, einen Chiffrierungscode, Code­wörter der Men’ševiki, Kurzbiographien der Mitglieder und Kandidaten des Büros des ZK der Russländischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei [RSDRP], ihres Organisationskomitees und der Auslandsdelegation enthält – sowie ein sehr detailliertes Personen- und Sachregister runden diese vorbildliche Dokumentation ab.

Die Dokumente stammen zu einem großen Teil aus den wichtigen einschlägigen Archiven wie dem Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam, der Boris I. Nikolaevsky Collection des Archivs der Hoover Institution in Palo Alto, dem Bakhmeteff-Archiv in New York, dem Russländischen Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte [RGASPI], vor allem aus dessen Fonds 275 mit den Papieren des ZK der RSDRP (Men’ševiki), aus dem Staatsarchiv der Russländischen Föderation [GARF] oder dem Archiv des Geheimdienstes [CA FSB], die sich alle in Moskau befinden. Ergänzt werden sie durch zahlreiche Artikel, die dem „Socialističeskij Vestnik“ entnommen sind.

Nach ihrem Ausschluss aus den Sowjets 1922 und den Führungsgremien der Kooperativen blieb den Men’ševiki nur noch die konspirative Tätigkeit. Aufgrund ihrer guten Kontakte zu Druckern und Setzern konnten sie 1922/23 eine bemerkenswerte (Unter­grund-)Pres­se­akti­vi­tät entfalten, doch konnte dies legale Parteiarbeit nicht ersetzen. So waren sie insgesamt zunehmend zur Bedeutungslosigkeit verurteilt (S. 322–323, 334). Auch wenn die Men’­še­viki auf der Basis der Buchstaben dreier Gedichte des Dichters Lermontov über eine relativ elaborierte Chiffrierung verfügten, gelang es dem GPU alsbald, auch den kodierten Schriftwechsel zu dechiffrieren und zum Ausheben men­schewistischer Zellen zu nutzen. Diesem Umstand in Kombination u.a. mit Denunziationen, eigenen Unachtsamkeiten der Men’ševiki sowie Provokationen war es geschuldet, dass im Frühjahr bzw. Sommer 1925 die Parteitätigkeit in der UdSSR weitgehend zum Erliegen kam (vgl. S. 299, 303, 395, 660–661, 671ff.).

Einen weiteren Nagel im Sarg der Men’ševiki bildete ihre fehlende politische Homogenität, wobei die Konfliktlinien zum einen zwischen den Parteiflügeln, zum andern zwischen der arbeits­teiligen „Doppelspitze“ der Men’ševiki, dem russischen Büro des ZK und der Auslandsdelegation (zagraničnaja delegacija), verliefen. Insbesondere ihr rechter Flügel – u.a. um den Mitbegründer des jüdischen „Bundes“ M. I. Liber – rang um „angemessene“ Repräsentation in beiden Führungsgremien und dem Zentralorgan der Partei, dem in Berlin seit Februar 1921 erscheinenden „Socialističeskij Vestnik“. Wenngleich sich der rechte Flügel in den Führungsgremien der Partei wiederfand, blieb ihm eine personelle Repräsentation in der Redaktion des Zentralorgans verwehrt. Einen zentralen Konfliktpunkt stellte die Aufnahme Libers – der lange Jahre kein Parteimitglied war – in das Büro des ZK dar. Das Büro des ZK, das organisatorisch und administrativ in Russland völlig selbständig agieren konnte, und die Auslandsdelegation bildeten die Parteiführung. Doch unterlagen sie nicht nur Veränderungen durch personelle Ergänzungen, sondern alle Entscheidungen bedurften der Zustimmung des jeweils anderen Führungsgremiums. Im Falle konträrer Auffassungen entschied die zusammengezählte Stimmenmehrheit beider Gremien. Diese Regelung galt seit Oktober 1922 und beschnitt die zuvor bestehende Machtfülle der Auslandsdelegation, auch wenn diese in dringenden Fällen selbständig entscheiden konnte, sofern sich nicht mindestens zwei ihrer Mitglieder einem Beschluss widersetzten. Damit bestand für die Auslandsdelegation die Möglichkeit, in operative Entscheidungen des Büros einzugreifen, was wiederum eine Quelle für heftige Meinungsverschiedenheiten darstellte (S. 128, 150, 157–158). Das Büro warf der Auslandsdelegation vor, wichtige Entscheidungen zu langsam zu treffen und zu kommunizieren, „archaische Positionen“ einzunehmen und die sich verändernden Rahmenbedingungen nicht wahrzunehmen (S. 395–396). In gewisser Weise verlief der Bruch zwischen rechten „Praktikern“ vor Ort in der Sowjetunion und „linken“ Theoretikern im Ausland.

Die ideologische Heterogenität der Men’ševiki wirkte sich vor allem nach dem Tod ihrer unbestrittenen Autorität Ju. O. Martov im April 1923 negativ auf ihre politische Handlungsfähigkeit aus. Dies offenbarte sich in den über ein Jahr dauernden Debatten über eine neue politische Plattform der Men’ševiki. Die bedeutende Zäsur des Endes des Bürgerkriegs und der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik erforderte von den Men’ševiki eine Standortbestimmung und eine veränderte Konzeption ihrer politisch-programmatischen Plattform, an der sie seit 1922 intensiv arbeiteten. Zu ihren Kernforderungen zählten nicht nur die Beendigung des bolschewistischen Terrors und eine Auflösung des GPU, sondern auch das Bekenntnis zur Selbstverwaltung und zur Eigeninitiative der Massen sowie die Wiederherstellung der politischen Freiheiten aller Bürger in einer Demokratischen Republik auf der Grundlage der Rechtsstaatlichkeit. Allerdings lehnten die Führungsgremien der RSDRP die Einberufung einer Konstituierenden Versammlung mit Hinweis auf die geringe Popularität, derer sie sich im Jahr 1918 erfreut hatte, ebenso ab wie einen bewaffneten Sturz der bolschewistischen Herrschaft (S. 145ff., 354, 433, 475, 573). Die Men’ševiki strebten eine Zusammenarbeit aller sozialistischen Kräfte unter Einschluss der Bol’ševiki – was allerdings innerparteilich durch­aus umstritten war (S. 210–218, 252–257) – an, lehnten aber eine Teilnahme an den Sowjetwahlen von 1922 wie auch 1923 ab, die sie als „Fiktion“ und „Schmierenkomödie“ charakterisierten (S. 109, 147, 183, 507ff.). In wirtschaftspolitischer Hinsicht forderten sie zum einen die Aufhebung des staatlichen Außenhandelsmonopols, zum andern einen freien (privatwirtschaftlichen) Binnenhandel bei gleichzeitiger Förderung der Kooperativen. Sie sprachen sich für eine Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen in der Industrie aus, redeten aber zugleich in wichtigen Bereichen wie Post, Telegraphie, Eisenbahn und der Kriegsindustrie einem Staatskapitalismus das Wort (S. 575–576, 591). Das erweiterte Plenum des ZK, das von Mai bis Anfang Juli 1924 tagte, verabschiedete die neue Leitlinie (S. 554–581). Hierbei handelte es sich um einen Formelkompromiss, wie einer Erklärung der Parteirechten zu ihrem Abstimmungsverhalten zu entnehmen war (S. 577). Tatsächlich erhielten die unterschiedlichen Parteiströmungen vollständige Aktionsfreiheit im Innern bei gleichzeitiger Wahrung der Aktionseinheit der Partei nach außen.

Bemerkenswert ist, wie doktrinär die Sprache der Men’ševiki, wie unrealistisch ihre Analyse der sozio-politischen Verhältnisse der Sowjetunion war. Immer wieder bedienten sie sich aus dem Arsenal stigmatisierender politischer Schlagwörter mit Begriffen wie „opportunistisch“, Bonapartismus, „bonapartistischer Zäsarismus“ etc. Damit unterblieb eine Analyse der Verhältnisse zugunsten der Verwendung undifferenzierter, meist negativ konnotierter Kampfbegriffe (S. 145, 585, 634). Selbst noch 1923, als die Men’ševiki nur noch in der Illegalität operieren konnten und die Geheimpolizei im Verlaufe des Frühjahrs zahlreiche ihrer Organisationen zerschlug – in Flugblättern charakterisierten die Men’ševiki diese Übergriffe als „wirkungsloses Mittel“ (S. 395, Zitat S. 401)  beschworen führende Parteimitglieder in der Presse nicht nur die Richtigkeit der menschewistischen Positionen, sondern sie priesen die Zukunft der russischen Sozialdemokratie, während die Tage des bolschewistischen Regimes gezählt seien. Seine Krise sei immanent, und die Men’ševiki erwarteten für das Jahr 1923 eine bedeutende politische Zäsur wie es die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik zwei Jahre zuvor gewesen war (S. 387, 393). Wie utopisch diese Deutungen sein sollten, erwies sich bereits ein Jahr später, als die Men’ševiki als funktionierende politische Organisation in der Sowjetunion nicht mehr existierten.

Folgendes Fazit lässt sich ziehen: Die Quellenedition ist chronologisch aufgebaut. Sie nimmt keine sachlichen Systematisierungen vor. Bahnbrechend neue Erkenntnisse über den politischen Schwanengesang der Men’ševiki vermittelt diese Quellenedition nicht. Der Vorzug liegt im schnellen Zugriff und in der Dechiffrierung mancher Texte. Es handelt sich um eine mustergültig edierte Dokumentation.

Lutz Häfner, Bielefeld/Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Men’ševiki v bol’ševistskoj Rossii 1918–1924. Men’ševiki v 1922–1924 gg. [Die men’ševiki im bolschewistischen Russland 1918–1924. Die men’ševiki in den Jahren 1922–1924]. Otv. red. Z. Galili, A. Nenarokov. Izdat. Rosspėen Moskva 2004. = Političeskie partii Rossii. Konec XIX – pervaja tret’ XX veka. Dokumental’noe nasledie. ISBN: 5-8243-0003-8, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 446-448: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Menseviki_1922-1924.html (Datum des Seitenbesuchs)