Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 2, S. 310-313

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Alexander Rabinowitch: The Bolsheviks in Power: The First Year of Soviet Rule in Petrograd. Bloomington, IN: Indiana University Press, 2007. XXI, 494 S., 25 Abb., 1 Kte. ISBN: 978-0-253-22042-4.

Sein akademisches Leben lang hat sich Alexander Rabinowitsch, Emeritus für Osteuropäische Geschichte der Indiana University in Bloomington, Indiana, mit der Russischen Revolution beschäftigt. Zwei Monographien, erstmalig publiziert 1968 bzw. 1976, thematisierten das Jahr 1917, den Aufstieg der Bol’ševiki sowie den Oktoberumsturz. Dieses Werk folgt einer veränderten Perspektive: Es behandelt das erste Jahr der Sowjetmacht in Petrograd. Die Wiege der Revolution büßte zum Winterende 1918 im Zusammenhang mit den wieder aufgenommenen militärischen Operationen der Mittelmächte seine Hauptstadtfunktion ein, weil der Rat der Volkskommissare nach Moskau übersiedelte. Zum zweiten fokussiert Rabinowitch nicht mehr ausschließlich die Bol’ševiki, sondern räumt ihren linkssozialrevolutionären Koalitionspartnern breiten Raum ein.

Die im Wesentlichen der politischen Geschichte verpflichtete Monographie ist chronologisch in vier Kapitel gegliedert. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit der Niederlage der gemäßigten sozialistischen Kräfte zwischen Ende Oktober 1917 und Anfang Januar 1918. Hier werden der II. Allrussische Sowjetkongress, die Versuche, eine homogene allsozialistische Koalitionsregierung zu bilden, der Beitritt der Linken Sozialrevolutionäre (LSR) zum Rat der Volkskommissare im Dezember 1917 und das Schicksal der Konstituierenden Versammlung behandelt. Der zweite Teil ist den Separatfriedensverhandlungen von Brest-Litovsk, den aufbrechenden innerparteilichen Auseinandersetzungen in beiden Regierungsparteien sowie den gravierenden innenpolitischen Auswirkungen, dem Bruch der Koalitionsregierung in Folge der Ratifizierung des Friedensvertrages durch den IV. Außerordentlichen Sowjetkongress gewidmet. Das dritte Kapitel behandelt die Zeit von der zweiten Märzhälfte bis zum V. Allrussländischen Sowjetkongress und zum linkssozialrevolutionären Attentat auf den deutschen Gesandten in Moskau, Graf v. Mirbach. Dem vierten Teil liegt eine breitere Perspektive zu Grunde. Er beschäftigt sich erstens mit dem Weg in den „Roten Terror“ und seinen Gewaltexzessen. Der Rote Terror begann in Petrograd wenige Stunden nach der Ermordung Urickijs und dem Attentat auf Lenin am 30. August 1918. Sein Ausmaß lässt sich allerdings nicht in vollem Umfang ermitteln, weil das KGB-Archiv keine Zahlenangaben über lokale Geiselnahmen in den einzelnen Stadtteilen enthält (S. 347, 399). Zweitens thematisiert dieser Teil die Feierlichkeiten zum ersten Jahrestag des Oktoberumsturzes und versucht abschließend, drittens, die Ergebnisse der Untersuchung unter der Überschrift „Der Preis des Überlebens“ zusammenzufassen.

Während sich in der neuen Hauptstadt Moskau und in vielen weiteren Landesteilen die Beziehungen zwischen LSR und Bol’ševiki merklich abkühlten, setzte sich in Petrograd und dem nördlichen Gebiet, den Gouvernements Archangel’sk, Vologda, Olonec, Petrograd, Pskov und Novgorod, bis in den Juli 1918 die vertrauensvolle Kooperation in Form einer Koalitionsregierung fort. Das Nordgebiet der RSFSR zählte zu einer der Hochburgen linkssozialrevolutionären Einflusses im Frühjahr 1918. Auf dem III. Kongress der Sowjets des Gouvernements Petrograds verfügten LSR über eine Mehrheit, in Olonec stellten sie den Vorsitzenden des Gouvernementsexekutivkomitees. Selbst in Kronštadt dominierten die Bol’ševiki nicht.

Im Frühjahr 1918 war in Petrograd eine klare Tendenz zu beobachten: eine Konsolidierung der PLSR und eine Auszehrung der Bol’ševiki. Deren Basis erodierte in Folge des Umzugs der Regierung nach Moskau, unzureichender Lebensmittelversorgung, der Fabrikschließungen, der Stadtflucht und der Konskription in die Rote Armee. Aus den Sowjetwahlen in der zweiten Junihälfte gingen die Bol’ševiki nur aufgrund umfangreicher Manipulationen als Sieger hervor (S. 248–252). Während die Bol’ševiki seit Februar 1918 über 20.000 Mitglieder verloren hatten, im Juni noch knapp 13.500, im September nur noch 6000 Mitglieder zählten (S. 248, 343, 397), blieb die Mitgliederzahl der LSR mit 4.500 zwischen April und Hochsommer 1918 konstant. Als herrschaftstabilisierende Größe waren die LSR für die Bol’ševiki unverzichtbar (S. 266, 281). Für diese gedeihliche Zusammenarbeit war auch das recht enge, auf gegenseitigem Respekt beruhende Verhältnis der führenden Persönlichkeiten beider Parteien verantwortlich, wie Rabinowitch verdeutlicht. Zu nennen wären die LSR P. P. Proš’jan und der Agrarkommissar des Nordgebiets, Nikolaj Kornilov; im Petrograder Parteikomitee der Bol’ševiki dominierten ebenfalls die eher gemäßigten Exponenten wie N. Krestinskij, der im August 1918 das Finanzressort im Rat der Volkskommissare in Moskau übernahm, oder M. Urickij, der sich der Entfaltung des Roten Terrors monatelang erfolgreich widersetzte (S. 324). Erst nach seiner Ermordung schwenkte der Petrograder Parteichef G. E. Zinov’ev auf den unnachgiebigeren Kurs der Moskauer Bol’ševiki um.

Zu bedauern ist, dass Rabinowitch frühere Positionen unverändert übernimmt. Seit über einem Jahrzehnt heißt bei ihm der Kommandeur der deutschen Streitkräfte in der Ukraine Eichgord und nicht Eichhorn. Ebenso lange spricht er von einem politischen „Selbstmord der Linken SR“ im Sommer 1918. Er attestiert ihnen, wie Don Quichotte gehandelt zu haben (S. 308), und dass das Attentat auf Mirbach eine „schlecht durchdachte Aktion“ gewesen sei, die letztlich zu der unvermeidlichen Unterdrückung der LSR geführt habe. Zum einen begründet er seine Position nicht, zum zweiten blendet der Autor die politische Aporie, in der sich die LSR im Sommer 1918 befanden, aus. Gegen den illegitimen Ausschluss der Men’ševiki und PSR aus dem VCIK und Sowjetinstitutionen hatten die LSR Mitte Juni kategorisch protestiert.

Die Einberufung des V. Sowjetkongresses stellte einen (letzten) Versuch der LSR dar, einen politischen Kurswechsel herbeizuführen. Angesichts der Desillusionierung weiter Teile der Bevölkerung über die Politik der Bol’ševiki bei gleichzeitig wachsender Popularität der PLSR war dieses Kalkül keineswegs unbegründet. Ihre Attraktivität verdankten die LSR auch ihrem Widerstand gegen die Innenpolitik der Regierung, beispielsweise gegen die gewaltsamen Getreiderequisitionen oder gegen die Herrschaft der Kommissare auf Kosten der Sowjets, deren Wahlen immer häufiger manipuliert wurden. Für die LSR stellte sich die Frage: Was tun? Wenn sie sich nicht in ihr Schicksal fügen und die Beschlüsse der fingierten bolschewistischen Mehrheit auf dem V. Allrussischen Sowjetkongress akzeptieren wollten, dann blieb nur eine letzte Handlungsoption. Das Attentat auf Mirbach war der Versuch, durch einen fait accompli die Außenpolitik Sowjetrusslands zu revidieren. Die LSR gingen davon aus, dass Internationalismus und Weltrevolution auf der zielutopischen Agenda der Bol’ševiki den höchsten Stellenwert genössen. Dass die LSR den Machthunger Lenins und seiner Genossen verkannten, erwies sich als eine fatale politische Fehleinschätzung, als eine „Naivität“, für die die LSR genauso zu zahlen hatten wie vor ihnen die übrigen Organisationen und Gruppierungen des politischen Spektrums, von den sog. bürgerlichen Parteien über die gemäßigten Sozialisten wie SR und Men’ševiki bis hin zu den Anarchisten. Gleichwohl könnte argumentiert werden, dass die die LSR prinzipienfest das Sowjetsystem über die Diktatur einer Partei, auch der eigenen, stellten. Aus diesen Erwägungen heraus verbot sich für sie Waffengewalt gegen die Bol’ševiki. Nur der Selbstschutz rechtfertigte Waffengewalt gegen „Gleichgesinnte“, gegen „Genossen“, gegen die Bol’ševiki.

Gegen die Kapitelüberschrift „The Suicide of the Left SRs“ sprechen nicht nur die Ausführungen des Autors über zahlreiche Maßnahmen der Bol’ševiki, die den Handlungsspielraum der PLSR immer stärker einschränkten, sondern auch Trotzkis gegen die LSR gerichteter Befehl vom 4. Juli 1918. Dieser ordnete an, alle Agitatoren dem Außerordentlichen Tribunal in Moskau zu überantworten und alle Agenten des internationalen Imperialismus, die zum Angriff aufriefen und sich der Sowjetmacht widersetzten, bei Bedarf auf der Stelle zu erschießen, wenn sie sich weigerten, ihren Widerstand gegen die Truppen der Mittelmächte einzustellen. Drittens sprechen die in Petrograd gegen die LSR ergriffenen Maßnahmen und verfügten Sanktionen, wie beispielsweise ihr Ausschluss aus den Sowjets ohne ein vorheriges Votum der Wählerschaft, gegen einen Selbstmord. Hier hissten die LSR am 8. Juli 1918 erst nach einstündigem Beschuss ihres militärischen Hauptquartiers, des Pagenkorps in der Sadovaja, dem 20 Menschen als Tote oder Verletzte zum Opfer fielen, die weiße Fahne. Ungeachtet der Kooperation zwischen LSR und Bol’ševiki in Petrograd versuchten letztere, sich ihres populären Koalitionspartners zu entledigen und beschleunigten damit den Weg in die Alleinherrschaft ihrer Partei. Die Kapitelüberschrift passt also nur bedingt zu Rabinowitchs eigener Folgerung: „It was part of a preemptive strike against the Left SRs“ (S. 289, ähnlich S. 297, 301).

Lobend zu erwähnen ist die breite Quellenbasis der Monographie. Mit immensem Fleiß hat Rabinowitch wohl etwa hundert Archivfonds – darunter zahlreiche persönliche Bestände – u. a. des GARF, des RGASPI, des Geheimdienstes FSB, des Staatsarchivs St. Petersburgs, des ehemaligen Parteiarchiv St. Petersburgs, des Archivs der Kriegsflotte, der Gebietsarchive St. Petersburgs und Leningrads in Vyborg, ferner in Großbritannien und den USA ausgewertet. Darüber hinaus zog er mehrere Dutzend zeitgenössischer Periodika heran. Die Belegstruktur der Endnoten gibt beredt Auskunft über Belesenheit und Wissen des Autors. Die Narration ist fesselnd. Eine Zeittafel, ein Literaturverzeichnis, ein Register, zwei Karten und zahlreiche Abbildungen komplettieren diese Monographie. So weit, so gut.

Fragt man allerdings nach dem Erkenntnisgewinn, dann ist die Bilanz weniger beeindruckend. Im Grunde waren sowohl story als auch plot schon wiederholt Gegenstand der Darstellung. Rabinowitch vermag Details hinzuzufügen, unser Bild um Nuancen zu bereichern, es aber nicht grundlegend zu korrigieren. Erinnert man sich des medialen Aufwands, den die Präsentation der deutschen Übersetzung Ende 2010 begleitete, dann drängt sich der Titel einer Komödie Shakespeares auf: Much ado about nothing.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Alexander Rabinowitch: The Bolsheviks in Power: The First Year of Soviet Rule in Petrograd. Bloomington, IN: Indiana University Press, 2007. XXI, 494 S., 25 Abb., 1 Kte. ISBN: 978-0-253-22042-4, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Haefner_Rabinowitch_Bolsheviks_in_Power.html (Datum des Seitenbesuchs)

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