Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 3, S. 470‒473

Verfasst von: Eva Hahn

 

Jutta Faehndrich: Eine endliche Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2011. XI, 303 S., Abb., Graph. = Visuelle Geschichtskultur, 5. ISBN: 978-3-412-20588-1.

Im Kontext der deutschsprachigen Heimatliteratur bilden die Vertriebenenheimatbücher eine Gruppe sui generis; ihr Thema ist nicht die real gelebte, sondern die ‚verlorene‘ Heimat, woraus sich trotz formaler Gemeinsamkeiten vielerlei Unterschiede ergeben. Von den bis zum Jahre 2000 rund 3500 bibliographisch nachweisbaren Büchern, die seit dem frühen 20. Jahrhundert erschienen sind und das Wort „Heimatbuch“ im Titel hatten, beschäftigten sich über 700 Bücher mit Ortschaften und Landstrichen außerhalb der Bundesrepublik und 580 von ihnen sind nach 1945 als „Vertriebenenheimatbücher“ veröffentlicht worden (S. 9). Damit bilden die letzteren nicht nur einen beachtlichen und eigenartigen Teil der Heimatliteratur, sondern sie stellen auch ein bemerkenswertes Untersuchungsfeld für die historische Gedächtnisforschung dar. Jutta Faehndrichs Dissertation hat die bisher kaum beachteten Vertriebenenheimatbücher mit einer ungewöhnlichen Sorgfalt erfasst, kontextualisiert und analysiert. Es ist ihr gelungen, nicht nur unser Wissen zur Geschichte des Erinnerns allgemein zu erweitern, sondern auch auf die bis heute ungewöhnlich kontroverse Geschichte der Vertriebenen ein neues Licht zu werfen.

Neben Erläuterungen zu Fragestellung, Forschungsstand, Methoden und theoretischen Grundlagen der Studie sowie zusammenfassenden Bemerkungen besteht die Studie aus zwei grundlegenden Teilen: einer historischen Darstellung (S. 69–115) und einer diskursanalytischen Betrachtung des „kulturellen Gedächtnisses der Vertriebenen im Heimatbuch“ (S. 116–237). Dabei finden wir detaillierte und anschaulich präsentierte quantitative Informationen historischer wie auch textanalytischer Art über die Erscheinungsorte, Erst- und Neuauflagen sowie über die Autoren, über regional-thematische Referenzen, den Themenkanon und die Themenverteilung oder über so detaillierte inhaltliche Aspekte wie etwa die sich im Laufe der Zeit mehr oder weniger ändernde Behandlung einzelner Geschichtsepochen. Karten, Abbildungen und ein bibliographisch wertvolles, nach Ortsnamen erschlossenes Verzeichnis der behandelten Bücher (S. 254–276) ergänzen diese bemerkenswerte Untersuchung einer inzwischen der Vergangenheit angehörenden ‚endlichen Geschichte‘ des Vertriebenenheimatbuches. „Seit ungefähr 1980 sinken die Publikationszahlen kontinuierlich, seit der Jahrtausendwende erscheinen kaum noch Werke“ (S. 79), stellt die Autorin fest, und das ist angesichts des gegenwärtig lebhaften Interesses der Nachkommengenerationen an den Vertreibungsschicksalen und der verlorenen Heimat ihrer Vorfahren eine ihrer ersten überraschenden Erkenntnisse: „Nur diejenigen, die diese Orte selbst noch als Heimat erlebt und begriffen haben, konnten ‚echte‘ Heimatbücher über sie schreiben.“ (S. 252)

Die Vertriebenenheimatbücher werden als von ehemaligen Einwohnern eines Ortes oder Kreises meist als Gemeinschaftsarbeit verfasste Monographien über die verlorene Heimat definiert (S. 69), die vor dem Zweiten Weltkrieg zum Teil zum Deutschen Reich und zum Teil zu anderen Staaten wie Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Rumänien oder der UdSSR gehörte. In der Öffentlichkeit werden sie in der Regel als eine Folklore der Vertriebenenverbände missachtet, und Jutta Faehndrich musste, wie sie selbst zugibt, viel Mühe aufbringen, um sie zu verstehen. Das lag nicht nur daran, dass sie nach und nach vielerlei unterschiedliche Regionen und Landesgeschichten im gesamten östlichen Teil des europäischen Kontinents kennen lernen musste. Die Vertriebenenheimatbücher erwiesen sich nämlich als für Insider geschriebene Werke, waren also keineswegs als Reiseführer, regionalgeschichtliche Darstellungen für Uneingeweihte oder als individuelle subjektive Momentaufnahmen mit universalem Aussagewert, die uns unbekannte Lebenswelten in gängigen literarischen Formen zu erschließen vermögen, gedacht. Darüber hinaus sind sie in einer heute fremd anmutenden Sprache geschrieben, sodass selbst diejenigen Nachkommen der einstigen Vertriebenen, denen sie Erinnerungen übermitteln sollten und die auch an jener Geschichte interessiert sind, kaum Zugang zu ihnen finden. Am ehesten werden sie heute vereinzelt von Regional- und Lokalhistorikern in der aus deutscher Sicht ‚verlorenen‘ Heimat verwendet und in die jeweiligen Landessprachen übersetzt, aber bei „der deutschen Enkelgeneration, die sich auf der Suche nach der Familiengeschichte in diese Regionen begibt, ist dagegen keine Heimatbuchrezeption nachweisbar.“ (S. 110) Die Suche nach den Ursachen für den Misserfolg der Heimatbuchautoren, ihre Erinnerungen ihren Nachkommen zu vermitteln, bildet einen der zentralen Untersuchungsstränge des Buches.

Dass die Vertriebenenheimatbücher heute kaum Leser finden, kann nicht an ihrer literarischen Form liegen; das zeigt etwa der Vergleich mit den erfolgreicheren Tradierungen der strukturell ähnlichen ‚Memorialbücher‘, die zur Geschichte der in der Shoah ausgelöschter jüdischer Gemeinden Ostmittel- und Osteuropas existieren. Eine ‚mangelhafte‘ Qualität könne das heute fehlende Interesse auch nicht erklären, weil es sich um Bücher sehr unterschiedlicher Qualität handele. Darüber hinaus weisen die Vertriebenenheimatbücher trotz struktureller Ähnlichkeiten große inhaltliche Unterschiede auf, die die Suche nach der Erklärung des überregional ähnlichen Rezeptionsproblems zusätzlich erschweren.

Jutta Faehndrichs Darstellung der regionalen Unterschiede zwischen den Heimatbüchern der einstigen „Reichsdeutschen“, der Deutschen aus Polen, der „Sudetendeutschen“ aus der Tschechoslowakei sowie der „Südosteuropadeutschen“, aber auch zwischen den an Ostpreußen, Schlesien, Pommern oder Ostbrandenburg erinnernden Heimatbüchern, gehört zu den wertvollsten Aspekten ihrer Untersuchung. Nach den sorgfältig belegten und differenzierenden Erkenntnissen der Autorin haben die Sudetendeutschen und die Deutschen aus Südosteuropa an den Vertriebenenheimatbücher „einen ganz überproportional großen Anteil“ (S. 70), mit einem bemerkenswerten Aufschwung in den sechziger Jahren (S. 73). Dagegen gibt es auch „Vertriebenengruppen ohne Heimatbücher“, wie die Baltendeutschen, die Wolhyniendeutschen, die Gotscheer Deutschen oder die Russlanddeutschen (S. 74). Heimatbücher über Großstädte wie etwa Breslau liegen nicht vor; obwohl in Schlesien die Heimatliteratur vor dem Krieg eine große Blüte erlebte und die Schlesier eine der größten Gruppen unter den Vertriebenen bildeten, zeichnen sich die schlesischen Heimatbücher nach 1945 „weder durch Quantität noch Qualität besonders aus“ (S. 139). Die Heimatbücher der Deutschen aus Polen ähneln in vieler Hinsicht denen der Südostdeutschen, wie z.B. in der Darstellung des Nationalsozialismus als der Ursache der Zerstörung ihres früheren, als ‚friedliche Nachbarschaft‘ präsentierten Zusammenlebens mit ihren einstigen Nachbarn anderer Nationalität (S. 145). Dagegen erheben die sudetendeutschen Heimatbücher seit den fünfziger Jahren mit zunehmender Intensität Anklage gegen die tschechische Nation: Die Vertreibung werde „zum negativen Endpunkt der deutsch-tschechischen Beziehungsgeschichte, auf den diese – in der Interpretation der sudetendeutschen Autoren – mindestens seit Ende des Ersten Weltkriegs hingesteuert habe“, stilisiert (S. 209).

Auf den gängigen mental maps der mit dem Begriff „Vertriebene“ konnotierten Assoziationen verwandelt Jutta Faehndrichs fundierte Studie das Bild der Vertriebenenheimatbücher aus einem grauen Fleck in eine bunte und sich im Laufe der etwa fünf Jahrzehnte ihrer Blütezeit stark verändernde Landschaft. Es wäre jedoch naiv, sich vorzustellen, dass die regionalen Unterschiede irgendwelchen a priori gegebenen historisch-ethnographischen Unterschieden entsprechen würden. Ihre markantesten Ursachen liegen nicht in mitgebrachten Traditionen oder Gruppenerfahrungen, sondern in den politischen Kontexten, in denen einzelne Vertriebenenorganisationen gewirkt haben. Wie die vorliegende Analyse zeigt, „war trotz des nationalen Zusammenschlusses im BdV als politischer Interessenvertretung für die Heimatbücher die landsmannschaftliche Gliederung ausschlaggebend, ob in Form von Vereinigungen, die die Herausgabe der Werke begleiteten, oder nicht zuletzt hinsichtlich spezifischer landsmannschaftlicher Deutungen von Geschichte und Gegenwart“ (S. 131). Ob von einzelnen Autoren oder von spontan entstandenen Autorengruppen verfasst, wirkten die historisch-politischen Rahmenbedingungen bei der Entstehung der Vertriebenenheimatbücher stark mit und darin liegt auch die Antwort auf die Frage, warum sie trotz ihrer Mannigfaltigkeit heute nicht mehr rezipiert werden. Aus der Sicht der gegenwärtigen deutschen Öffentlichkeit sind sie in einer im Zweiten Weltkrieg untergegangenen ‚Heimat‘ und gleichzeitig in der spezifischen und heute nicht mehr attraktiven Erinnerungs- und politischen Kultur der Nachkriegszeit verhaftet. Das zeigt die Autorin detailliert am Beispiel der sudetendeutschen Heimatbücher, und ihre Ausführungen lesen sich wie eine unabweisbare Mahnung, von allen Verallgemeinerungen über die Vertriebenen endgültig Abschied zu nehmen.

Die Sudetendeutschen seien „im Hinblick auf die in den Werken vertretenen Haltungen, Erzählungen, Stereotype, regionalen Mythen und Topoi die mit Abstand homogenste und in sich geschlossenste Gruppe“. Im Hinblick auf die schon vor dem Zweiten Weltkrieg ausgeprägten heimatkundlichen Traditionen weist die Analyse der sudetendeutschen Vertriebenenheimatbücher sowohl auf Kontinuitäten als auch auf Veränderungen hin. Im Unterschied zu der Vorkriegs- und zur unmittelbaren Nachkriegszeit stellt Jutta Faehndrich, was die antitschechische Rhetorik angeht, seit den fünfziger Jahren eine zunehmende Radikalisierung fest, die sich selbst nach dem Fall der kommunistischen Diktaturen weiter verhärtete: „Kaum eine andere Landsmannschaft erweist sich als so straff von ihrer Führungsebene durchpolitisiert. Kennzeichnend für die Heimatbücher der letzten zwanzig Jahre, verfasst von der jüngsten noch lebenden Erlebnisgeneration, ist somit eine Mischung aus immer aggressiverem Diskurs zur Vertreibung und deutsch-tschechischen Beziehungsgeschichte bei zunehmend wirrer werdendem Inhalt und Aufbau der Werke.“ (S. 152) Die Autorin kann an vielerlei Beispielen die „Abstrusität“ der Argumentation sowie deren sachlich falsche Behauptungen zeigen und damit ihre These von „extremen Verhärtungen“ im Sudetendeutschen Diskurs veranschaulichen, auch wenn sich die Landsmannschaft seit einigen Jahren um versöhnlichere Töne bemüht. Als Erklärung bietet die Autorin Hinweise auf die in den fünfziger Jahren gefestigten Strukturen und Machtverhältnisse und den sich daraus ergebenden jahrzehntelang andauernden starken Einfluss des rechtsextremen Witiko-Bundes in der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Letztere wiederum sei als einer der großen und daher einflussreichen Vertriebenenverbände von selbstbewusst-dominanten Haltungen geprägt. Jutta Faehndrich spricht daher von einem erfolgreichen Beispiel des historical engineering, aber nicht nur das.

Die sudetendeutschen Organisationen sind infolge ihrer zahlenmäßigen Größe sowie der gefestigten institutionellen Strukturen die in der deutschen Öffentlichkeit am häufigsten bemerkbare Vertriebenengruppe und tragen daher maßgeblich zu den gängigen Verzerrungen in der öffentlichen Wahrnehmung der Vertriebenen bei. Das vorliegende Buch weist deutlicher als üblich darauf hin, wie wünschenswert es wäre, sich mit der Geschichte der Vertriebenen sachlich zu beschäftigen, wenn wir Interesse an der Überwindung ihrer stereotypen Wahrnehmungen haben. Zum Wiederaufleben des Interesses an den vorliegenden Heimatbüchern wird das wohl kaum beitragen, weil sie nicht nur der ‚verlorenen Heimat‘ verpflichtet sind, sondern auch zu sehr ein Produkt einer längst vergangenen deutschen Nachkriegszeit sind. Jutta Faehndrich hat sie für uns und die künftigen Generationen scharfsinnig und mit viel Sympathien erschlossen, aber sie selbst hofft auf ein künftiges Interesse eher dort, woher die Vertriebenen kamen: „Vielleicht werden die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen eines Tages in diesen Regionen von denjenigen wiederentdeckt, die dort heute ihre Heimat haben, und vielleicht werden sie sie dann sogar als eigene Heimatbücher fortschreiben.“ (S. 252)

Eva Hahn, Augustfehn

Zitierweise: Eva Hahn über: Jutta Faehndrich: Eine endliche Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2011. XI, 303 S., Abb., Graph. = Visuelle Geschichtskultur, 5. ISBN: 978-3-412-20588-1, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Hahn_Faehndrich_Eine_endliche_Geschichte.html (Datum des Seitenbesuchs)

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