Valerija Alekseevna Allenova Istoričeskaja nauka v rossijskoj provincii v konce XIX – na­čale XX vv.: Tambovskaja učenaja archivnaja kommissija. [Geschichtswissenschaft in der russischen Provinz Ende 19.–Anfang 20. Jh.: Die Tambover wissenschaftliche Archivkommission]. Notr-Damskij universitet Rjazan’ 2002. 375 S., Taf. = Novejšaja rossijskaja istorija: issledovanija i dokumenty, 3.

Dieses Buch der Dozentin am Lehrstuhl für Neueste Vaterländische Geschichte und Historiographie an der Staatlichen Universität Vo­ro­než ist ein wesentlicher Beitrag zur russischen Wissenschaftsgeschichte und, da es um wissenschaftliches Treiben außerhalb der großen Zentren des Russischen Reiches geht, zugleich zur his­torischen Landeskunde (kraevedenie). Dieser The­menbereich hat, wie Akademiemitglied S. O. Šmidt als Vorsitzender des Verbandes der Heimatkundler Russlands in seinem Vorwort be­merkt, in den letzten Jahren besonderes Interesse auf sich gezogen; im übrigen hat sich auch erst seit nicht sehr langer Zeit die Möglichkeit eröffnet, hierzu eingehendere Forschungen an­zu­stellen.

Die Provinzialarchive gingen seit 1884 aus den bereits existierenden Statistik-Komitees der Gou­vernements hervor, die mit anderen – kirchlichen, archäologisch-historischen – Archiven und Komitees zusammengeführt wurden. In dem kulturellen bzw. wissenschaftlichen Leben der russischen Provinzstädte kam ihnen zentrale Bedeutung zu, denn in ihrem Umkreis fanden sich die lokalen und regionalen Wissenschaftler, Politiker, und Würdenträger sowie engagierte Bürger gehobener Berufe zusammen, im großen und ganzen diejenigen Kreise, die in den Bereichen der zemstvo-Selbstverwaltung zu finden wa­ren. Die Archivkommissionen legten fest, was ihnen zu sammeln wichtig und hinsichtlich ihrer Stadt bzw. Region aussagekräftig zu sein schien. Daher gaben die Sammlungen der Ar­chi­ve nicht nur Auskunft über die lokale und regionale Vergangenheit, sondern auch über die In­ter­essen und Bewertungsmaßstäbe der Zeit. Es war nicht die „große“ Wissenschaft, die in den Pro­vinzen betrieben wurde. Allenova spricht vom „Mikroklima“ des gelehrten Bemühens, und zwar sowohl hinsichtlich der Wissenschaft als auch des gesellschaftlichen, politischen, kul­tu­rellen und wirtschaftlichen Lebens, dessen Zeug­nisse in den Provinzialarchiven und ‑mu­seen gesammelt wurden. Die Provinzialarchive wa­ren die Orte, an denen die lokal-regionalen Be­züge und Verankerungen realisiert wurden: in Jubiläen, in der Pflege von Traditionen und nicht zuletzt in der Vermittlung von Kenntnissen. So können die Archivkommissionen sicherlich als landeskundliche Gesellschaften wissenschaftlich-aufklärerischen Charakters gelten, die gerade in der sonst nicht sonderlich gut versorgten Provinz ihre Bildungsaufgabe mit großem Ernst wahrnahmen. Für eine Gesamtbeurteilung der wissenschaftlichen Archivkommissionen sieht Allenova noch keine ausreichende Grundla­ge, da die Verhältnisse offensichtlich von Pro­vinzstadt zu Provinzstadt unterschiedlich waren. So waren beispielsweise die Kontakte der Tambover Kommission zu den wissenschaftlichen Spitzen in den Hauptstädten, anders als es bei an­deren Archivkommissionen der Fall war, sehr ge­ring, was nicht ohne Auswirkung auf die Kom­missionsarbeit blieb. Im Ganzen sind die Archivkommissionen wohl im Spektrum zwischen wissenschaftlicher und gesellschaftlicher sowie mehr oder minder offizieller Organisation anzusiedeln. Der liberale Einfluss, die Mitwirkung privater Personenkreise und die schwer kontrollierbare Streuung in der weiten Provinz ließen es den bol’ševiki geraten erscheinen, die Provinzialarchive möglichst rasch in zentrale staatliche Verfügung zu überführen; daher be­en­de­ten sie sehr rasch ihre Existenz und unterwarfen das gesamte Archivwesen einer grundlegenden Reorganisation.

Mit ihrer chronologisch-systematisch aufgebauten Studie hat Allenova einen sorgsam erarbeiteten, wesentlichen Beitrag zur Wissenschafts- und Provinzgeschichte Russlands vorgelegt. Sie hat eine Fülle ungedruckter und ge­druckter Quel­len erschlossen, Tabellen zu den finanziellen Verhältnissen und Aktivitäten der Tambover Archivkommission beigefügt und ihre Ausführun­gen sorgfältig belegt. Dieses Buch kann als besonders erfreuliches Ergebnis russisch-deutsch-amerikanischer Zusammenarbeit gelten, denn die University of Notre Dame und der Deut­sche Akademische Austauschdienst (Alexan­der-Herzen-Programm) haben die Publikation in Russland ermöglicht.

Hans Hecker, Düsseldorf

Zitierweise: Hans Hecker über: Valerija Alekseevna Allenova: Istoričeskaja nauka v rossijskoj provincii v konce XIX – na­čale XX vv.: Tambovskaja učenaja archivnaja kommissija. Notr-Damskij universitet Rjazan’ 2002. = Novejšaja rossijskaja istorija: issledovanija i dokumenty, 3. ISBN: 5-94473-003-x, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hecker_Allenova_Istoriceskaja_nauka.html (Datum des Seitenbesuchs)