Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 159-161
Verfasst von: Wladislaw Hedeler
Felicitas Fischer von Weikersthal Die „inhaftierte“ Presse. Das Pressewesen sowjetischer Zwangsarbeitslager 1923–1937. Wiesbaden: Harrassowitz, 2011, 528 S., Ktn., Abb., Tab., Graph. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 77. ISBN: 978-3-447-06471-2.
Das im Juni 2011 fertig gestellte, zur Diskussion anregende Buch basiert auf einer 2009 an der Ruhr-Universität Bochum verteidigten Dissertation über die im Solovecker Lager und im Belbaltlag zwischen 1923 und dem Beginn des „Großen Terrors“ 1937 herausgegebenen Zeitungen „Perekovka“, „SLON“ und „Novye Solovki“. Die Ergebnisse dieser Auswertung der Jahrgänge 1924–1926 der Zeitung „Die neuen Solovki“, der Jahrgänge 1929–1930 der Zeitung „Das Solovecker Lager z.b.V.“ und der Jahrgänge 1935–1936 der Zeitung „Umschmieden“ finden sich in den Kapiteln IV (Presseorgane), V (Themen der Lagerpresse) und VI (Häftlingspresse als Quelle).
Erklärtes Ziel der umfangreichen Studie ist eine Neubewertung des sowjetischen Lagersystems. In den drei ersten Kapiteln wird die Anfangsphase des Lagersystems in Sowjetrussland rekonstruiert. Anhand ausgewählter Presseorgane und Lager arbeitet die Verfasserin „die Bedeutung der Kulturerziehung innerhalb des Lageralltags und der auf Wiedereingliederung der Häftlinge ausgerichteten sowjetischen Strafvollzugspolitik“ heraus. (S. 25) Reiches kulturelles Leben stand mit dem Besserungsarbeitsgedanken in Verbindung, so das Leitmotiv der Untersuchung. „Kulturelle Tätigkeiten blieben fester Bestandteil des Lagerlebens, als im Zuge der forcierten Industrialisierung die Ausnutzung der im Lager vorhandenen Arbeitskraft in den Vordergrund rückte.“ (S. 109) Fortschrittliche Theorien fanden Ende der 1920er Jahre „im Politbüro keine Unterstützung […] Allerdings wäre es falsch, von der Praxis Rückschlüsse auf die Theorie zu ziehen und hierin das Ende des Besserungsansatzes zu sehen.“ (S. 125)
Ausgehend von dieser Arbeitshypothese unternimmt Felicitas Fischer von Weikersthal den Versuch, Defizite in der von ihr herangezogenen und ausgewerteten Fachliteratur über den Gulag zu benennen und zurechtzurücken. Hierzu gehören die politisch-ideologischen Hintergründe und Aufgaben der „von Häftlingen und für Häftlinge“ gestalteten Lagerpresse, die Motivation zu Mitarbeit, die Interaktion zwischen Häftlingen und Lagerleitung, der Wahrheitsgehalt der Berichterstattung sowie die Spielräume der Autoren, um nur einige Fragen herauszugreifen. Untersucht werden Autoren, Themen und Erinnerungen von Häftlingen und von Mitarbeitern der Lagerverwaltung. Da die Autorin nicht in Behördenarchiven arbeiten konnte, waren ihr nur jene Materialien zugänglich, die sich in den von „Memorial“ angelegten Archiven befinden. Ihre Antworten bleiben „hypothetisch“ (S. 228) da „aufgrund der Quellenlage nicht alle Fragen umfassend und im Detail beantwortet werden können, darunter im Besonderen die Frage nach den Motiven der Häftlinge und der Rezeption der Häftlingspresseorgane“. (S. 178) Die Hinweise auf die Redaktionsmitglieder fallen daher spärlich aus; deren Herkunft ist „bis dato nicht zu klären“, nur in Ausnahmefällen sind „genauere Informationen“ bekannt. (S. 204–207)
Schon deshalb ist es bedauerlich, dass, verglichen mit den anderen von der Autorin ausführlich kommentierten und kritisierten Publikationen über den Gulag in den 1930er bis 1950er Jahren, dem Buch von Josef Brodskij über die Geschichte von Solovki – insbesondere den darin enthaltenen Häftlingserinnerungen – nicht die gebührende Aufmerksamkeit zuteil wird. Eine Erklärung, warum diese ausgeblendet werden, bleibt F. Fischer von Weikersthal, die daraus lediglich Angaben zur Häftlingsbelegung zitiert, dem Leser schuldig.
Im Kapitel über die sowjetischen Lager im Zeitraum 1917–1941 (behandelt wird die Zeitspanne zwischen 1923 und 1936) werden die Rahmenbedingungen der sowjetischen Lagerpresse skizziert. Dabei rückt die Kaderschmiede der Moskauer Hauptverwaltung Lager Solovki, zu Recht als Experimentierfeld in den Blick. Hier gab es bekanntlich nicht nur eigene Presseorgane sondern auch Lagergeld. (S. 70) Die hier Dienst tuenden Tschekisten waren Herren über Leben und Tod der Häftlinge. Auf dem als Folterhölle verschrienen Archipel hatten die durch den Bürgerkrieg geprägten Tschekisten das Sagen. (S. 136) Offen bleibt, welchen Erfahrungsschatz die von den Solovecker Inseln in andere Lager versetzten Tschekisten mitnahmen und weitergaben. Diese in der Fachliteratur benannte Forschungslücke hat die Autorin nicht schließen können. Schließlich fällt das mit der 5-Jahresplanung einhergehende Aufblühen des Gulagsystems in der UdSSR mit dem Ende von Solovki zusammen. (Vgl. hierzu S. 191–194) Solovki steht – so eine These von Felicitas Fischer von Weikersthal – für die „vorstalinistische Form des Strafvollzugs“. (S. 108) Die hier praktizierte Umerziehung erscheint nach Meinung der Autorin in einem neuen Licht, wenn sie in Bezug zum Gesellschaftsbild der Bol’ševiki gesetzt wird: (S. 112) Denn: „Die Lager des GULAG dienten nicht ausschließlich der Unterdrückung.“ (S. 114)
Da nicht alle Jahrgänge der ausgewerteten Zeitungen komplett erhalten, keine Redaktionsarchive überliefert (S. 247) und nicht alle Archivalien zugänglich sind, hat sich die Verfasserin vor allem auf die Materialien der Parteiorganisationen der von ihr untersuchten Lager gestützt. Diese in den staatlichen Gebietsarchiven aufbewahrten Bestände sind weitgehend zugänglich. Alle anderen, in Behördenarchiven überlieferten Akten sind für ausländische Forscher nur eingeschränkt bzw. nicht mehr zugänglich. Das erklärt das Fehlen einer Analyse der tatsächlich an der Konzeption und Herstellung der Lagerzeitungen beteiligten Personen sowie des Kräfteverhältnisses zwischen Politabteilung und 3. Abteilung in der Administration des Lagers.
Wie sich die Interaktion zwischen der Moskauer Hauptverwaltung und den einzelnen Lagern gestaltete, hing nicht zuletzt von diesem Kräfteverhältnis ab. In der vorliegenden Studie ist generalisierend von „der Lagerverwaltung“ (S. 197, 202) die Rede; es fehlt eine Analyse der unterschiedlichen Interessenlagen- und ‑gruppierungen innerhalb der Administration.
Der „Große Terror“ machte dem kulturrevolutionären Impetus auch auf den Solovecker Inseln ein Ende. Das von Maxim Gorki herausgegebene Buch über den Kanalbau und der auf dem Archipel produzierte Propagandafilm (S. 147 ff.) gerieten schnell in Vergessenheit. Warum hatte niemand mehr ein Interesse daran, die eingestellten Blätter wieder zum Leben zu erwecken? Schließlich handelte es sich bei den nach 1939 in den Lagern herausgegebenen Zeitungen um reine Informationsorgane der Administration, in denen die Einbeziehung der Häftlinge kaum noch eine Rolle spielte. Hier kamen die im Lager eingesetzten Facharbeiter und ihre Kooperationspartner aus staatlichen Forschungseinrichtungen zu Wort. „Im dualen System von Besserung und Zwangsarbeit bekam letztere das Übergewicht.“ (S.78) – hebt die Verfasserin richtig hervor.
Ungeachtet der unbeantwortet bleibenden Fragen ist es der Autorin gelungen, Material zum Vergleich mit anderen Lagerzeitungen und zur Untersuchung der Arbeit der Politorgane zusammenzutragen. Somit wird es in Zukunft möglich sein, nicht nur die Einhaltung der von oben vorgegebenen Gestaltung und die Untergliederung der Zeitungen in Rubriken, sondern auch die Steuerung einzelner Pressekampagnen und die Vorgabe von zentralen Themen für die Berichterstattung über die Lagerwirtschaft in einer Presse zu untersuchen, die als „eigenständiger, gleichberechtigter Teil des sowjetischen Pressewesens“ (S. 287) vorgestellt wird.
Zitierweise: Wladislaw Hedeler über: Felicitas Fischer von Weikersthal Die „inhaftierte“ Presse. Das Pressewesen sowjetischer Zwangsarbeitslager 1923–1937. Wiesbaden: Harrassowitz, 2011, 528 S., Ktn., Abb., Tab., Graph. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 77. ISBN: 978-3-447-06471-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hedeler_Fischer_von_Weikersthal_Inhaftierte_Presse.html (Datum des Seitenbesuchs)
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