Mark Junge, Gennadij Bordjugov, Rol’f Binner Vertikal’ Bolšogo Terrora. Istorija operacii po prikazu NKVD  00447 [Die Vertikale des Großen Terrors. Die Geschichte der Operation gemäß dem Befehl des NKVD Nr. 00447]. Iz­dat. Novyj Chronograf Moskva; Izdat. AIRO-XXI Moskva 2008. 778 S. ISBN: 978-5-948810-83-6.

Fünf Jahre nach der Veröffentlichung des Ban­des Kak terror stal ‚bolšim‘. Sekretnyj prikaz  00447 (Wie der Terror „groß“ wurde. Der Geheimbefehl des NKVD Nr. 00447. Moskva 2003. 352 S.) und zwei Jahre nach der Konfe­renz zum Thema am Deutschen Historischen Institut in Moskau liegt ein neuer Sammelband vor, der sowohl die Ergebnisse dieser Fachta­gung als auch die seitdem publizierten Doku­mente zur Vorbereitung und Durchführung der NKVD-Operation berücksichtigt. Während der von August 1937 bis November 1938 dauern­den Operation wurden fast 270.000 Sowjetbür­ger von speziell hierfür eingerichteten Dreier­kommissionen zur Todesstrafe oder zu „Besse­rungsarbeit“ verurteilt.

Im Vorwort kündigt Marc Junge vier weitere Bände an, die im Rahmen des von ihm koordi­nierten Forschungsprojektes „Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937–1938. Die Massen­operation auf der Grundlage des Befehls Nr. 00447“ entstanden sind und in russischer oder ukrainischer Sprache 2009 erscheinen wer­den. Zwei Bände, darunter ein gleichnamiger Sammelband, der Beiträge deutscher, russischer und ukrainischer Historiker enthalten wird, wer­den in deutscher Sprache erscheinen. In zwei Dokumentenbänden werden jene Dokumente publiziert, die in Regionalarchiven im Altajge­biet (Massovye repressii v Altajskom krae) und in der Ukraine (Kulackaja operacija v Ukraine) aufbewahrt werden. Damit knüpfen diese Edi­tionen an die Publikation aus dem Jahre 2003 an, die ein Kapitel über den Verlauf der Opera­tion in Tatarien enthält. Der von A. Tepljakov vorbereitete Band Mašina terrora. OGPU-NKVD Sibiri v 1929–1941 gg. ist 2008 im Moskauer Verlag Chronograf erschienen.

Mit ihren Forschungsergebnissen wollen die am Projekt beteiligten Historiker die Vorberei­tung, Durchführung und Nachbereitung der NKVD-Operation erhellen, die Phasen des „Großen Terrors“ genauer benennen und die Rolle der Täter skizzieren. Bis auf den heutigen Tag sind nicht alle Dokumente aus dem Zentralen Archiv des FSB für die Forschung zugänglich. Erst wenn diese zugänglich sind und ausgewertet werden können, ist es möglich, sich auch übergreifenden Fragen zuwenden. Zu diesen gehören für die Autoren die nach der Motivation der Massenoperationen gegen die „Kulaken und anderen konterrevolutionären Elemente“ und nach ihrem zielgerichteten oder willkürlichen Charakter. Mit Blick auf die Täter wird im vorliegenden Buch der Frage nachgegangen, ob sie Instrumente oder Akteure der Operation waren. Teil dieser Fragestellung ist das Verhältnis von Zentrum und Peripherie und die Qualifizierung der Opfer als politische oder kriminelle.

Die 198 Dokumente sind in chronologischer Abfolge den thematischen Kapiteln zugeordnet und kommentiert. Jedem Kapitel ist eine aus­führliche Einführung vorangestellt. Das erste Kapitel (S. 16–127) enthält eine Untersuchung der Vorbereitung der Operation, wobei auch die Initiativen, die von der Basis ausgingen, mit einbezogen wurden. Der Wechselwirkung von Partei- und NKVD-Organen wird besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Aus der Kor­respondenz zwischen der Provinz und Mos­kau geht deutlich hervor, dass die von oben vor­gegebenen Limite an der Basis aufgestockt wor­den sind. Das zweite Kapitel (S. 128–273) ist der ersten Phase, d.h. der Erstellung der Listen im Juli 1937 und der ersten Verhaftungswelle vom August bis Dezember 1937 gewidmet. Das dritte Kapitel (S. 274–351) gilt der zweiten Pha­se von Januar bis November 1938 und das fünf­te Kapitel (S. 405–475) dem Abschluss der Operation. Aufgrund der Quellenlage bleibt of­fen, wie die für die Regionen vorgegebenen Li­mite während der ersten Phase unten „aufge­teilt“ wurden (S. 147). Auffällig ist, dass die Urteile in den parallel zur Ausführung des Be­fehls Nr. 00447 laufenden „nationalen Opera­tionen“ des NKVD härter ausfielen (S. 159). Eine Kontrolle des NKVD durch staatliche Stel­len fand in dieser Zeit so gut wie nicht statt (S. 163). 1938 änderte sich die Stoßrichtung der Operation. Jetzt richtete sich der Schlag gegen die „anderen konterrevolutionären Elemente“ (S. 289). Den Schluss der Operation markiert die Ablösung von Nikolaj Ežov durch Lavrentij Berija. Die Dreierkommissionen wurden aufge­löst, neue Verhaftungen und Deportationen un­tersagt, die Kontrolle der Verhaftungen unterlag wieder den Gerichten, die Mitarbeiter des NKVD wurden durch die Parteiorgane über­prüft. Im offiziellen Sprachgebrauch war von der „Wiederherstellung der sozialistischen Ge­setzlichkeit“ die Rede. Dass die Tatsachen eine andere Sprache sprechen, belegt das sechste Ka­pitel (S. 476–507) mit Dokumenten zur Rehabi­litierung der Opfer von 1939 bis 1941.

Es bleibt zu hoffen, dass dieser gründlich re­cherchierte und quellengesättigte Band, der in Russland nur in kleiner Auflage erschienen ist, bald in deutscher Übersetzung vorliegt.

Wladislaw Hedeler, Berlin

Zitierweise: Wladislaw Hedeler über: Mark Junge, Gennadij Bordjugov, Rolf Binner: Vertikal' Bol'šogo Terrora. Istorija operacii po prikazu NKVD № 00447 [Die Vertikale des Grossen Terrors. Die Geschichte der Operation gemaess dem Befehl des NKVD Nr. 00447]. Izdat. Novyj Chronograf Moskva; Izdat. AIRO-XXI Moskva 2008. ISBN: 978-5-948810-83-6, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 119-120: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hedeler_Junge_Vertikal.html (Datum des Seitenbesuchs)