Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Monika Heinemann

 

Die Weltkriege als symbolische Bezugspunkte. Polen, die Tschechoslowakei und Deutschland nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hrsg. von Natali Stegmann. Masarykův ústav a Archiv AV ČR Praha 2009. 295 S. ISBN: 978-80-8649553-8.

Der vorliegende Sammelband präsentiert neuere Forschungsergebnisse zu „Formen der Verarbeitung und Interpretation der Kriegsereignisse“ (S. 14) beider Weltkriege in Polen, der Tschechoslowakei, in Österreich und Deutschland bzw. für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der BRD und der DDR. Die Beiträge wurden auf einer gleichnamigen Tagung im Oktober 2007 präsentiert; Organisatoren waren die Herausgeberin des Bandes Natali Stegmann vom SFB 437 „Kriegserfahrungen, Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ (Tübingen) und Ivan Šedivý, der Leiter des Masaryk-Instituts und des Archivs der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik (Prag).

Die Beiträge des Bandes sind thematisch in drei Sektionen gegliedert. Der erste Teil befasst sich mit nationalen und regionalen Sinnstiftungsprozessen nach den Kriegsenden von 1918 und 1945. Wie im gesamten Band konzentriert sich auch in diesem Teil die Mehrheit der Autoren auf Analysen nationaler Geschichtskulturen. Lediglich Malte Thießen betrachtet die Deutung des Zweiten Weltkrieges auf lokaler Ebene. In seinem Text belegt er überzeugend, dass das Gedenken an die Opfer alliierter Luftangriffe sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik Deutschland bereits seit Kriegsende ein bedeutender symbolischer Bezugspunkt städtischer Identitätsstiftung war. Unter Ausblendung von Kriegsursachen und deutscher Verbrechen diente die Erinnerung an die einheimischen Bombenopfer städtischen Gesellschaften dazu, ein „Selbstbild der Aufbauhelden, der mahnenden Opfer und der [mit den ehemaligen Kriegsgegnern] Versöhnten“ (S. 106) zu schaffen, durch welches die Kriegserfahrungen positiv umgedeutet werden konnten. Mit dieser Studie plädiert Thießen zudem für die Erschließung einer dritten Ebene der Analyse erinnerungskultureller Fragestellungen zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis – derjenigen des lokalen bzw. „kommunalen“ Gedächtnisses.

Die Beiträge der zweiten Sektion befassen sich mit den Folgen des Ersten Weltkrieges; im Mittelpunkt der Analysen stehen dabei sozial- und gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen um Versorgungsansprüche und die Bewertung von Kriegsteilnehmern und -geschädigten. Wie Julia Eichenberg in ihrem Beitrag zur Zweiten Polnischen Republik skizziert, waren die Auseinandersetzungen um die Legitimität der Forderungen von Veteranen an den Staat ein entscheidender Faktor im Prozess der Konsolidierung des wiedererstandenen Staates und seiner Identität. Im Zentrum der Auseinandersetzungen stand der Kampf gegen die Benachteiligung derjenigen Veteranen, die in den Armeen der Großmächte gekämpft hatten, gegenüber den Teilnehmern der polnischen Grenzkriege von 1918–1921. Die Erinnerung an den Kampf während des Weltkrieges, in dem Polen in den Armeen der Teilungsmächte gegeneinander gekämpft hatten, wurde dabei zugunsten der Erinnerung an die Polnischen Legionen und den Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920/21 in den Hintergrund gedrängt. Auf die Konsolidierung einer gemeinsamen Identität der heterogenen Gruppe polnischer Kriegsteilnehmer hatten dabei insbesondere externe Faktoren Einfluss: In internationalen Zusammenkünften von Veteranenverbänden wurden die polnischen Kriegsveteranen als einheitliche Gruppe wahrgenommen, was entscheidend zur Ausbildung ihrer gemeinsamen Identität als „polnische Kämpfer“ beitrug.

Christian Weiß schildert in seinem Beitrag detailliert die pazifistische Kriegsdeutung des sozialdemokratisch geprägten „Reichsbundes der Kriegsgeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen“ der Weimarer Republik am Beispiel der Arbeit des Verbandes in der Gedenkpolitik und Jugendarbeit sowie seiner Bemühungen um internationale Zusammenarbeit mit den Veteranenverbänden ehemaliger Kriegsgegner. Der Beitrag knüpft damit an eine neuere Tendenz der historischen Forschung an, welche die bisher dominierende Deutung der Veteranenverbände der Weimarer Republik als militaristische und republikfeindliche Organisationen differenziert und in Teilen, wie im vorgestellten Beispiel, widerlegt.

Der dritte Abschnitt des Bandes schließlich widmet sich der Entwicklung der Deutungen des Zweiten Weltkrieges. Anhand des juristischen Umgangs mit Kriegsteilnehmern – Wehrmachtssoldaten, Widerstandskämpfern sowie Funktionshäftlingen von Konzentrationslagern – und der ihn begleitenden politischen und öffentlichen Auseinandersetzungen werden die Prozesse der sich wandelnden Deutung der Kriegsereignisse und Handlungsweisen von Kriegsteilnehmern analysiert. Des Weiteren wird die symbolpolitische Umwertung bestimmter Gedenktage oder Akteursgruppen untersucht.

Joanna Wawrzyniak erläutert in ihrem theoretisch fundierten Beitrag am Beispiel der Aktivitäten des staatlichen zentralen „Verbandes der Kämpfer für Frieden und Demokratie“ (polnisch: ZBoWiD) die Entstehung, die politische und ideologische Funktion und die Bedeutungswandlung grundlegender Mythen bezüglich des Zweiten Weltkrieges in der Volksrepublik Polen bis 1969. Gegenstand der Analyse sind dabei der sich zunächst formierende Mythos des (kommunistischen) Sieges über den Faschismus, der in den Jahren des Poststalinismus dominierende Mythos der Einheit des polnischen (kommunistischen und nicht-kommunistischen) Widerstands gegen die nationalsozialistische Okkupation sowie das in den sechziger Jahren dominante Narrativ der Unschuld der polnischen Gesellschaft in Bezug auf Verbrechen, die während der Besatzungszeit verübt wurden.

Zofia Wóycicka beleuchtet in ihrem Artikel die moralische und politische Bewertung der Aktivitäten ehemaliger polnischer Funktionshäftlinge in deutschen Konzentrationslagern in den Gerichtsprozessen und Diskussionen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sie zeichnet dabei überzeugend nach, wie es dem Dachverband ehemaliger polnischer Häftlinge deutscher Konzentrationslager und Gefängnisse – im Einklang mit der kommunistischen Partei – gelang, die Diskussion um die Funktionshäftlinge auf eine eindeutige Opfer-Täter-Dualität zu verengen. Die Häftlingsgesellschaften in den KZs wurden damit als homogene Opfergruppe festgeschrieben; eine Deutung, die bis heute fortwirkt. Die Durchsetzung dieser Interpretation diente zum einen der Wahrung der Legitimität des Herrschaftsanspruchs der kommunistischen Partei. Zum anderen sollte das polnische Selbstbild als unschuldige Opfer und Helden und hierdurch die gesellschaftliche Einheit gesichert werden.

Die Beiträge des Bandes sind in ihrer Thematik und Ausrichtung insgesamt heterogen; in einigen Artikeln fehlt dem Leser der rote Faden des Tagungsthemas. Insgesamt ermöglichen die Einzelstudien daher keine vergleichenden oder übergreifenden Einblicke in die Entwicklung nationaler Erinnerungskulturen und Geschichtspolitiken, was jedoch auch nicht als Ziel des Bandes formuliert wurde.

Wie die Liste der Beiträger deutlich macht – ein Drittel von ihnen sind jüngere Wissenschaftler aus Deutschland, Polen und Tschechien – hat der gegenwärtige Boom der historischen und kulturwissenschaftlichen memory studies auch die Länder Ostmitteleuropas erfasst. Etwa ein Drittel der Beiträge – und zugleich die spannendsten des Bandes – sind Teile von Dissertationsvorhaben. Diese wurden mittlerweile zwar abgeschlossen, gerade die Arbeiten ostmitteleuropäischer Autoren liegen aber leider noch nicht in Übersetzung vor. Die Ergebnisse dieser aktuellen, jungen Forschung einer deutschsprachigen Öffentlichkeit zu präsentieren, ist das Verdienst des vorliegenden Bandes. Insgesamt ermöglicht er dem Leser einen spannenden Einblick in neue Forschungen zu nationalen Erinnerungskulturen im 20. Jahrhunderts in Bezug auf die beiden Weltkriege.

Monika Heinemann, München

Zitierweise: Monika Heinemann über: Die Weltkriege als symbolische Bezugspunkte. Polen, die Tschechoslowakei und Deutschland nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hrsg. von Natali Stegmann. Masarykův ústav a Archiv AV ČR Praha 2009. ISBN: 978-80-8649553-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Heinemann_Weltkriege_als_symbolische_Bezugspunkte.html (Datum des Seitenbesuchs)

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