Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 291-292

Verfasst von: Jochen Hellbeck

 

Igor’ V. Narskij: „Fotokartočka na pamjat’“: Semejnye istorii, fotografičeskie poslanija i sovetskoe detstvo. (Avtobio-istoriko-grafičeskij roman) [„Eine Fotografie zur Erinnerung“: Familiengeschichten, fotografische Grußsendungen und sowjetische Kindheit. (Autobio-historio-grafischer Roman)]. Čeljabinsk: Ėnciklopedija, 2008. 516 S., Abb. ISBN: 978-5-91274-028-2.

Im „Französischen Testament“, dem 1993 erschienenen autobiografischen Roman des in Frankreich lebenden russischen Schriftstellers Andrei Makine, spürt der Erzähler einem geheimnisvollen Foto nach, das er als kleiner Junge im Fotoalbum seiner Großmutter entdeckte. Das wichtige Buch des Čeljabinsker Historikers Igor Narskij, eine gleichermaßen wissenschaftliche wie persönliche Abhandlung über seine sowjetische Kindheit und im weiteren Sinne die Möglichkeiten, vergangene Zeiten und Lebenswelten retrospektiv zu fassen, beginnt ebenfalls mit einer Fotografie: einem Porträt, das ihn als Siebenjährigen abbildet, in Sonntagskleidung und mit verhaltenem Lächeln auf einem opulenten Schemel thronend. Wie Makines Erzähler, der seine Kindheitssommer bei seiner Großmutter auf dem Land verlebte, war Narskij als Junge jeden Sommer bei seinen Großeltern in Gorkij (dem heutigen Nižnij Novgorod) zu Besuch. Sie waren es, die ihn am Tag vor seiner Einschulung zum Fotoatelier in der Stadt brachten, wo das Porträt entstand.

Narskijs Buch ist angelegt als ein fortgesetzter Versuch, das Foto zum Sprechen zu bringen. Zum einen geht es ihm um die vielfältigen Umstände, die zur Entstehung und Gestaltung des Fotos führten. In Anlehnung an Pierre Bourdieu glaubt er, dass das Bild weniger eine Realität denn die Erwartungen und Hoffnungen derer fixierte, die für seine Entstehung verantwortlich gewesen seien; es drücke „ihre Wunschordnung der Dinge“ aus. Susan Sontag folgend, führt Narskij weiter aus, dass seine Großeltern mit Hilfe des Fotos, das sie in zahlreichen Exemplaren an die über die Sowjetunion verstreute Familienmitglieder verschickten, die Absicht einer „symbolischen Vereinigung“ verfolgten. Um den Wert des Bildes zu unterstreichen, wählten sie daher auch einen Berufsfotografen.. Exkurse in die Geschichte seiner Großeltern und die Entwicklung der Porträtfotografie in Russland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts runden diese Überlegungen ab.

Zum anderen nimmt Narskij das Kindheitsporträt zum Anlass für eine ausgedehnte Reise in seine eigene Vergangenheit. Anstöße findet er bei der Forschungsrichtung der Visuellen Soziologie, die sich gegen intentionalistische Sichtweisen sträubt und die Offenheit von Bildquellen für verschiedenste Interpretationen betont. Die Aussagekraft einer Fotografie erschließe sich weniger in den Umständen der Entstehung denn in der Geschichte ihres Gebrauchs. Im Verlauf des Buchs kommt Narskij zur Einsicht, dass er der vorerst letzte Teilnehmer einer „postfotografischen Situation“ ist, die mit den Bedeutungszuweisungen seiner längst verstorbenen Großeltern begann. Sein Buch versteht er als eine weitere Deutungsschicht, die für seine eigenen Nachkommen bestimmt sei und darüber hinaus für alle Leser, die sich der Frage ihrer Lebensgeschichte stellten.

Diesen vielschichtigen Reflexionen entspricht auch die ungewöhnliche Struktur des Buches, das theoretische Erörterungen, familiengeschichtliche Skizzen und eigene Erinnerungsperspektiven in der Form eines fortlaufenden Forschertagebuches präsentiert. Narskij scheint diese Gattung mit Absicht gewählt zu haben, um den kommunikativen Prozess seiner Annäherung an die Fotografie aus dem Jahre 1966 zu dokumentieren. Das Tagebuch wird nicht von Daten punktuiert, sondern von wechselnden Ikonen auf den Buchseiten, die den Schwenk zu einem neuen Themenschwerpunkt kennzeichnen: Ein kleines „i“ am Seitenrand verweist auf informative Passagen, ein Spielzeugpferd auf Kindheitserinnerungen, ein gerissener Film auf erinnerungstheoretische Erörterungen. Die fortwährenden Perspektivbrüche geben dem Buch Schwung und stützen seine zentrale Aussage von der illusorischen Einheit zwischen dem heutigen Erzähler Igor Narskij und seinem autobiographischem Subjekt, dem sowjetischen Kind, das nie in der ersten, sondern immer in der dritten Person als „der Junge“ zur Sprache kommt.

Zuweilen wünschte man sich, dass Narskij einige seiner durchweg interessanten historischen Überlegungen, etwa zur Hobbyfotografie in Russland oder zur Körpersprache der Nachkriegszeit, tiefer ausgelotet hätte. Auf seiner Kindheitsfotografie erkennt er Züge des viktorianischen Piktorialismus, und womöglich vorschnell gelangt er zum Schluss, dass der 1890 geborene Inhaber des Fotostudios in Gorkij seine vorrevolutionäre ästhetische Prägung in das Bild hineingelegt habe; daher seien auch Narskijs Großeltern für das Bild so empfänglich gewesen. Das erscheint als ein gewagter und vielleicht zu geradliniger historischer Brückenschlag, der den neoklassizistischen Schwenk der sowjetischen Kultur in den dreißiger Jahren ignoriert. Narskijs Kindheitsfoto lässt sich auch als ein Attribut der stalinistischen Kultur lesen, ebenso wie die Neuauflagen der schreibenden „Klassiker“ aus dem 19. Jahrhundert, die unter Stalin ein Comeback feierten und hinter dem Foto auf dem vorderen Buchumschlag aufgereiht sind.

Doch mindert dies nicht den Wert dieses ungewöhnlichen und mutigen Buchs, das an die autobiographisch inspirierten Werke von anderen Russlandforschern erinnert – man denke an Svetlana Boyms „Common Places“ oder Yuri Slezkines „Jewish Century‒, diese jedoch in der Bereitschaft zur historischen Selbsterforschung hinter sich zurück lässt. Interessant liest sich Narskijs Versuch auch im Hinblick auf die vom Princetoner Anthropologen Serguei Oushakine konstatierte Sprachstörung oder „Aphasie“, wonach postsowjetische Subjekte in Ermangelung von positiven Begriffen für die Bestimmung ihrer Zukunft sich auf vertraute Konzepte  aus ihrer sowjetischen Vergangenheit stützen. Narskijs Arbeit zeigt hingegen, wie schnell der Grund bei der Erforschung der scheinbar vertrauten Vergangenheit ins Schwanken gerät.

Am Schluss von Makines Roman macht der Erzähler eine dramatische Entdeckung, die mit dem zu Anfang entdeckten Foto zu tun hat. Narskijs Einsichten zu Ende seines Buchs sind weniger überwältigend; und jeder nach intelligentem Zeitvertreib suchende Leser wird eher zum meisterhaften Text von Makine greifen als zum streckenweise ermüdenden Buch von Narskij, dem ein straffendes Lektorat sicherlich genützt hätte. Und doch hat Narskijs Text einen großen Vorzug vor dem Roman von Makine, seinem unmittelbaren Zeitgenossen (Makines Geburtsjahr ist 1957, Narskijs 1959; beide sind Angehörige der letzten Sowjetgeneration).

Der Historiker Narskij legt ungleich tiefer und komplexer als der Romancier Makine Rechenschaft ab über das Alltagsleben, die Hoffnungen, Wünsche und Enttäuschungen der verschütteten sowjetischen Vergangenheit. Makine konzipiert die Entwicklung seines Erzählers als einen linearen Weg aus der sowjetischen Unterdrückung hin zur postsowjetischen Freiheit. Die Sprache seiner aus Frankreich stammenden Großmutter verleiht ihm dabei Halt und Orientierung. Narskij schreibt anderthalb Jahrzehnte nach Makine und reflektiert den Zusammenbruch der Sowjetunion aus größerem Zeitabstand. Er erkennt einen fundamentalen Bruch zwischen den Welten des Erwachsenen und des Kindes. Er verhandelt zwei verschiedene Zeit­ebenen und Wertesysteme und weigert sich daher, die sowjetische Realität allein mit postsowjetischen Augen zu messen. Der Rückeinband des Buchs trägt diesem Bruch augenzwinkernd Rechnung: Der erwachsene Narskij sitzt auf einem Empireschemel in der gleichen Pose wie der siebenjährige Junge. Die schwarz-weiße Ästhetik beider Fotos verstärkt ihre Ähnlichkeit. Wer näher hinschaut, erkennt jedoch, dass der erwachsene Narskij auf einem anderen Schemel sitzt. Das Erwachsenenporträt ist erkennbar mit den Insignien des Photoshop-Computerprogramms versehen, was weitere Fragen über die Materialität des Stuhls und die Geschlossenheit des abgebildeten Ichs aufwirft. Die Besinnung auf die sowjetische Vergangenheit, besonders von Seiten eines postsowjetischen Autors, ist immer auch eine Konstruktion.

Jochen Hellbeck, New Brunswick, NJ

Zitierweise: Jochen Hellbeck über: Igor’ V. Narskij „Fotokartočka na pamjat’“: Semejnye istorii, fotografičeskie poslanija i sovetskoe detstvo. (Avtobio-istoriko-grafičeskij roman) [„Eine Photographie zur Erinnerung“: Familiengeschichten, fotographische Grußsendungen und sowjetische Kindheit. (Autobio-historio-graphischer Roman)]. Čeljabinsk: Ėnciklopedija, 2008. ISBN: 978-5-91274-028-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hellbeck_Narskij_Fotokartocka.html (Datum des Seitenbesuchs)

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