Boris V. Anan’ič Bankirskie doma v Rossii 1860–1914 gg. Očerki istorii častnogo predprinimatel’stva [Bankhäuser in Russland 1860–1914. Studien zur Geschichte des privaten Unternehmertums]. 2., verb. u. erw. Aufl. Izdat. Rosspėn Moskva 2006. 293 S.

Boris V. Anan’ič beschäftigt sich in seiner Studie mit der Entwicklung des privaten Bankgewerbes in Russland. Seine Hauptaugenmerk gilt dabei den Bankhäusern Štiglic und Gincburg in St. Petersburg sowie den Bankhäusern der Gebrüder Poljakov und der Gebrüder Rjabušinskij in Moskau.

Einleitend schildert Anan’ič die Anfänge des pri­vaten Bankgewerbes bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Sein Hauptaugenmerk gilt der aus dem hessischen Arolsen (Waldeck) stammenden Familie Štiglic, insbesondere Alexander L. Štiglic (1814–1884), dem letzten kaiserlichen Hofbankier in St. Petersburg. Das Bankhaus A. L. Štiglic war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das größte und einflussreichste in der Hauptstadt des Russländischen Reiches. Seine Bedeutung beruhte vor allem auf der Unterbringung russischer Anleihen im Ausland (insgesamt 13 Anleihen in einer Gesamthöhe von 346 Mio. Rbl. in Silber von 1820 bis 1855). Groß war ebenfalls das finanzielle Engagement beim Eisenbahnbau in Russland. Alexander L. Štiglic, „König der Petersburger Börse“ und „glühender Verehrer Goethes und Schillers“, war einer der Gründungsväter der „Hauptgesellschaft der russländischen Eisenbahnen“. Sein Stern begann jedoch nach dem für Russland verlorenen Krimkrieg rasch zu sinken. Die Zeit der eng mit dem Herrscherhaus verbundenen Bankiers war endgültig vorbei. Neue Möglichkeiten der Kreditschöpfung ergaben sich vor allem durch das Entstehen privater Handelsbanken infolge der vom Finanzministerium betriebenen neuen Geld- und Kreditpolitik. Diese zielte zwar nunmehr darauf ab, nicht zuletzt dem privaten Kapital im Lande einen möglichst großen Investitionsspielraum einzuräumen. Nicht gewillt war man indes, die Börsenspekulationen mit Wertpapieren überborden zu lassen. So war und blieb bis zuletzt das Problem einer allzu kleinlichen Gängelung durch den Staat. Das lieferte wiederum Zündstoff für Auseinandersetzungen zwischen Finanzministerium und Interessenvertretungen von Handel und Industrie.

Zu den herausragenden Kreditinstitutionen gehörte in Russland das Petersburger Bankhaus I. E. Gincburg, dessen Begründer sich sein Start­kapital als Branntweinpächter beschafft hatte. Die Leitung der Bank unterstand zunächst Evsel’, dann Goracij O. Gincburg (1832–1909). Das 1859, kurz nach der Einführung neuer gesetzlicher Regulierungen für das private Kreditgewerbe in der Reichshauptstadt gegründete Bankhaus nahm dort rasch die alte Stellung des Bankhauses A. L. Štiglic ein. Dabei kamen den Gincburgs bei ihren Geschäften ihre vorzüglichen Beziehungen zu ausländischen Banken sehr zugute. Ähnlich den Rothschilds verließen sie sich bei den Kredit- und Versicherungsgeschäften in erster Linie auf die eigene Verwandtschaft. Beteiligt war man bereits seit den Sechzigerjahren auch am Goldbergbau in Sibirien, besonders an der Lena. Groß war das Engagement der Gincburgs für die Belange der jüdischen Bevölkerung in Russland.

Ebenfalls von der Branntweinpacht her – und mit ähnlichen Verflechtungen mit der hohen Bürokratie in St. Petersburg (D. A. Tolstoj) – kam der spätere Eisenbahnkönig Samuil S. Pol­jakov (1837–1886), der älteste unter den Brü­dern Poljakov. Sein Betriebskapital sammelte er aber im Eisenbahnbau zu Lasten des Fiskus, und zwar nicht nur über Kreditgarantien, sondern auch über direkte Subventionen zu Vor­zugsbedingungen. Seit den Sechzigerjahren trat er zunächst als Gründer, danach als Konzessionär und schließlich als Besitzer einiger privater Eisenbahnlinien auf. Samuils Brüder Jakov (1832–1909) und Lazar (1842–1914) tätigten vor allem Handels- und Bankgeschäfte. Lazar, am Ende der erfolgreichste unter den Brüdern, gründete in Moskau eines der großen Bankhäuser, die Moskauer Internationale Bank. Die Poljakovs schufen zudem eine Reihe von Banken im Süden Russlands und waren – wenn auch wenig erfolgreich – eine Zeitlang in Persien aktiv.

Waren die Gincburgs und die Poljakovs Juden, so gehörten die Rjabušinskijs einer anderen in Russland diskriminierten Minderheit an, den Altgläubigen. Sie waren zunächst vor allem im Textilgewerbe tätig und gingen dann zur Gründung einer Bank über. Pavel M. Rjabušinskijs acht Söhne gehörten in den beiden letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zu den fortschrittlichsten Vertretern der liberalen Moskauer Bourgeoisie. Das gilt insbesondere für seinen ältesten Sohn Pavel (1871–1924). Die Moskauer Bank der Rjabušinskijs war und blieb ein reines Familienunternehmen, an dem die Brüder zu gleichen Teilen beteiligt waren; für Moskauer Altgläubige, die nach wie vor an ihrem Glauben festhielten und ihn zur Grundlage ihres russischen Patriotismus machten, war dies nichts Ungewöhnliches. Die Rjabušinskijs betrachteten sich zweifellos als Vertreter eines nationalrussischen Unternehmertums. Dabei gehörten sie zu den modernsten Moskauer Industriellen, die sich zuletzt sogar im Automobilbau engagierten. Groß war zu allen Zeiten ihr politischer und sozialer Einsatz für die Belange der Altgläubigen.

Klaus Heller, Gießen/Fürth

Zitierweise: Klaus Heller über: Boris V. Anan'ič: Bankirskie doma v Rossii 1860–1914 gg. Očerki istorii častnogo predprinimatel’stva [Bankhaeuser in Russland 1860–1914. Studien zur Geschichte des privaten Unternehmertums]. 2., verb. u. erw. Aufl. Izdat. Rosspėn Moskva 2006. ISBN: 5-8243-0736-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 604-605: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Heller_Ananic_Bankirskie_doma.html (Datum des Seitenbesuchs)