Egor Gajdar Dolgoe vremja. Rossija v mire: Očerki ėkonomičeskoj istorii [Eine lange Zeit. Russland und die Welt. Essays über Wirtschaftsgeschichte]. 2-oe izd. Izdat. Delo Moskva 2005. 656 S.

Egor Gajdar, gegenwärtig Direktor des Instituts für Ökonomie der Übergangsperiode in Moskau und in der Regierungszeit El’cins als Ministerpräsident bzw. Erster stellvertretender Ministerpräsident der Russländischen Föderation (1992–1994) einer der Hauptverantwortlichen für den Übergang zur freien Marktwirtschaft, lässt in seinem Buch nicht nur diese Zeit nochmals Revue passieren, um sie auf ihre Nachhaltigkeit zu überprüfen. Inspiriert besonders durch die Arbeiten Claudels und Wallersteins macht er sich darüber hinaus daran, das heutige kapitalistische Weltsystem auf seine historischen Wurzeln zurückzuführen und auf seine weitere Zukunftsfähigkeit im Rahmen fortschreitender Globalisierung nationaler Wirtschaftssysteme zu befragen. Für sich nimmt er dabei in Anspruch, dafür nicht nur die notwendige wissenschaftliche Quali­fikation zu besitzen, sondern als einer, der Geschichte selbst mitgestaltet hat, dafür auch über genügend praktische Erfahrung zu verfügen.

Das Buch besteht aus vier Teilen, die jeweils wieder in 15 Kapitel mit mehreren weiteren Unterteilungen gegliedert sind. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem modernen wirtschaftlichen Wachstum in der Welt, der zweite mit der Entwicklung unterschiedlicher Wirtschafts- und Gesellschaftsformen im Laufe der Menschheitsgeschichte bis hin zum Kapitalismus westeuropäischer Prägung mit seinen sozialen Folgen. Im dritten Teil geht es um die historischen Besonderheiten der Entwicklung Russlands von den Anfängen bis zum Zusammenbruch des sozialistischen Wirtschaftssystems und zum postsowjetischen Übergang zur Marktwirtschaft. Im vierten und letzten Teil widmet sich Gajdar den „Schlüsselproblemen der postindustriellen Welt“ im Allgemeinen.

Es ist nicht leicht, Gajdars Ausführungen als Fachwissenschaftler kritisch zu folgen, zumal er sie nach eigener Aussage eher populärwissenschaftlich verstanden sehen möchte, sozusagen als eine Art „Ad usum Delphini“ für angehende Demokraten. Unverkennbar sind in seiner historischen Analyse, die mit den Jäger- und Sammler-Gesellschaften beginnt, um dann den sich daraus entwickelten Bauern- und Nomadengesellschaften bis hin zu Feudalismus und Kapitalismus immer größere Beachtung zu schenken, noch manches von den Vorgaben der materialistischen Geschichtsauffassung von Marx und besonders Engels enthalten, wenn auch mit deutlicher Distanz zur Stalins schematischer „Fünf-Stadien-Lehre“. Wie schon aus dem Titel er­sicht­lich, spielt bei Gajdars Rückschau in die Ge­schichte der Menschheit außerdem Fernand Braudels „Longue durée“ eine erkenntnisleitende Rolle. Aber auch Immanuel Wallersteins „Weltsystem“ mit seinem kapitalistischen Antrieb aus der Nordwestecke Europas seit dem 16. Jahrhundert gehört zu den Ideengebern für Gajdars Geschichtsbild. Sein sonstiges historisches Wissen schöpft Gajdar – selbst für die zarische bzw. sowjetische Zeit Russlands – zumeist aus der neueren angelsächsischen Literatur. Sein historischer Duktus bekommt dadurch eine zusätzliche Glättung.

Zwei Hauptprobleme behandelt Gaidar: zum einen die außergewöhnliche Entwicklung des kapitalistischen Weltsystems mit seinem vor allem seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sich mehr und mehr stabilisierenden wirtschaftlichen Wachstum, das immer mehr Ländern die Chance gibt, daran aktiv mitzuwirken; zum anderen das Phänomen der ökonomischen Rückständigkeit Russlands, die bereits in zarischer Zeit durch direkte staatliche Einmischung kaum kompensiert und in kommunistischer durch bewusste Vernichtung des Privateigentums und Lähmung jeglicher privaten Initiative am Ende gegenüber dem dynamischen westlichen Kapitalismus sogar noch weiter vergrößert wurde. Erst der Übergang der So­wjetunion und der anderen sozialistischen Länder zur Marktwirtschaft schuf von neuem die Mög­lichkeit, sich selbst aktiv in die globale kapitalistische Weltwirtschaft einzuklinken. Für das postsowjetische Russland eröffnete sich da­mit die Möglichkeit, sich aus der vorher zu engen Verflechtung von Politik und Wirtschaft auf der Basis ausschließlichen Staatseigentums zu befreien und zu einem freiheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem auf der Grundlage von unternehmerischer Privatinitiative, gesetzlicher Eigentumsgarantie und neutralem Staatsapparat überzugehen. Jedenfalls kann für Gajdar nur auf diese Weise in Russland selbst echtes wirtschaftliches Wachstum als Voraussetzung für politische und soziale Stabiliät in Gang gesetzt und damit für die Zukunft sogar die Möglichkeit einer wahren Führerschaft in der Welt geschaffen werden, die die Sowjetunion im Grunde nie gehabt habe.

Gajdars Werk ist ein lesenswertes Buch, das einerseits viele neue Einblicke gewährt, aber an­de­rerseits den historischen Prozess ziemlich schab­lonenhaft darstellt. Interessant wird es besonders da, wo Gajdar das von den bol’ševiki ab 1917 eingeführte Wirtschaftssystem als Perversion in der Weltgeschichte brandmarkt und die Privatisierung des sowjetischen Staatseigentums in den neunziger Jahres des vergangenen Jahrhunderts als entscheidenden Schritt auf dem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft in der postsowjetischen Zeit rechtfertigt.

Klaus Heller, Fürth

Zitierweise: Klaus Heller über: Egor Gajdar Dolgoe vremja. Rossija v mire: Očerki ėkonomičeskoj istorii [Eine lange Zeit. Russland und die Welt. Essays über Wirtschaftsgeschichte]. 2-oe izd. Izdat. Delo Moskva 2005. 656 S. ISBN: 5-7749-0389-3, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Heller_Gajdar_Dolgoe_vremja.html (Datum des Seitenbesuchs)