Olga T. Yokoyama Russian Peasant Letters. Texts and Contexts. Part 1 and Part 2. Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2008. Bd. 1: 486 S., Abb.; Bd. 2: 487 S., Abb. = Slavistische Studienbücher, N.F. 18.

Osteuropahistoriker klagen gern. Besonders beliebt ist es, den Mangel an Selbstzeugnissen russischer Bauern und Bäuerinnen zu bedauern. Über ihre Sicht auf die Zeitenläufte ließen sich keine Aussagen treffen, da es angeblich keine Quel­len gebe. Yokoyamas Publikation eines bäuerlichen Briefwechsels vermag es, dieser Ar­gu­mentation den Boden zu entziehen. Der Ar­chiv­fund im Staatlichen Archiv Tjumen’ regt dazu an, vor allem abseits der Hauptstädte nach weiteren bäuerlichen Texten zu suchen. Yoko­ya­ma bereichert nicht nur jene Vielzahl an Veröffentlichungen bäuerlicher Autobiographik, die seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor allem russische Lokalhistoriker an­ge­regt haben, sondern präsentiert mit Briefen bis­her fast gänzlich übersehenes bäuerliches All­tagsschriftgut.

Der sich über sechzehn Jahre hinziehende Brief­wechsel gewährt einen Einblick in das Leben der Familie Žernakov aus dem nordrussischen Gouvernement Vjatka in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die beiden ältesten Söhne Aleksej und Vasilij hatten 1881 ihr Heimatdorf Pazdery verlassen, um in Sibirien Geld zu verdienen. Im Dorf herrschte Hunger, der Vater trank, die Geschäfte liefen schlecht, und zwei Kinder starben kurz nach der Geburt. Immer wieder forderten der Vater Lavr und die Mutter Elizaveta ihre Söhne auf, verspro­chenes Geld zu schicken. Die in den dreißiger Jahren geborenen Eltern waren im Schreiben kaum bewandert, in den meisten Fällen diktierten sie ihre Briefe Verwandten, die besser schrei­ben konnten. Ab 1886 entspannte sich die prekäre finanzielle Situation vor allem durch die Hochzeit Aleksejs mit einer wohlhabenden Rigaerin und durch mutige Investitionen in neue Boote für die Güterschifffahrt. Der neu gewonne­ne Wohlstand wurde in Stein gegossen und in Bil­dung umgesetzt: Das Haus der Familie erhielt ein städtisches Antlitz und die Tochter Tat’jana konnte nun das Mädchengymnasium be­suchen. Sie löste zusammen mit ihren Brüdern Ivan und Gavriil die Eltern als die häufigsten Absender der Briefe ab.

Der wirtschaftliche Erfolg der Söhne ging mit der schwindenden Autorität des Vaters einher, dessen Alkoholprobleme zu einer großen fa­miliären Belastung wurden. Durch abfälliges Gerede über die Familie der Braut torpedierte er die geplante Hochzeit seines Sohnes Ivan. Dessen Wunsch wuchs, das Heimatdorf zu verlassen. Inständig flehte er seinen großen Bruder an, ihm eine Anstellung zu verschaffen. Auch die Mut­ter vermied die Gegenwart ihres Gatten: Sie flüchtete sich in zahlenmäßig und an Entfernung zunehmende Pilgerreisen, die auffällig den Alkoholexzessen ihres Mannes nachfolgten. Tat’­ja­na widersetzte sich offen den Wünschen des Vaters und begann eine Ausbildung zur Lehrerin. Sie trat – der Vater konnte es als Affront ver­stehen – in die Gesellschaft für Abstinenz ein. 1893 lebten nur noch die Eltern und Tat’­ja­na im Heimatdorf, während die Söhne von der Stadt Sarapul aus die Firma leiteten oder als Kapitäne ihre Warenschiffe über die Flüsse lenk­ten. Die Eltern verkauften Ackerland, Pferde und Kühe und lebten nun allein von den Zuwen­dungen ihrer Kinder. Der Briefwechsel bricht 1896 mit der Nachricht ab, dass Ivan nach langen Jahren des Zauderns eine Frau gefunden habe.

Der Briefwechsel beeindruckt in zahlreichen Aspekten. Er offenbart nicht nur einen intimen Einblick in die Familie eines ehemaligen Staatsbauern am Ende des 19. Jahrhunderts, sondern zeigt darüber hinaus, wie diese Familie, die immer seltener als Familie zusammen kam, ihr feh­lendes Beisammensein durch Schreiben ersetzte. Mit insgesamt 91 Briefen und Tele­gram­men über den 16-jährigen Zeitraum ist das Text­korpus sehr dicht. Besonders imponiert, dass mit der Mutter und der Tochter Tat’jana auch zwei Frauen an dem Briefwechsel beteiligt waren. Schriftstücke von Bäuerinnen sind für das 19. Jahrhundert kaum überliefert. Durch diesen vielschichtigen Blick auf das Leben einer Familie kann der Briefwechsel eine reichhaltige Quel­le für mannigfaltige Fragestellungen sein. Indem er die Ansichten von zwei Generationen sowie von Frauen und Männern vereint, ergänzt er hervorragend bäuerliche Tagebücher und Auto­biografien.

So lassen sich an den Briefen Mechanismen so­zialer Mobilität ablesen. Den Aufstieg der Fa­mi­lie Žernakov bewirkten vor allem drei Faktoren: Erstens ermöglichte die Zahl von fünf arbeits­fähigen Söhnen, einige von ihnen auf Wanderarbeit zu schicken, während die zu Hause ver­bliebenen den bereits erlangten Lebensstandard halten bzw. ausbauen konnten. Zweitens er­wies sich die Familienpolitik als sehr geschickt. Die einzelnen Familienmitglieder wählten nicht nur sehr überlegt ihre Partner/innen, sondern gebrauchten auch klug das Mittel des kumovstvo. Geschickt vernetzten sie sich mit an­de­ren prosperierenden Familien durch Taufpaten­schaften. Die Žernakovs sahen – drittens – vor allem an der Familie der Mutter, dass Mut, Anstrengung und Bildung sich auch materiell lohnen konnten. Wie sehr sich die Biographiemus­ter nach der Bauernbefreiung auch auf dem Dorf geändert hatten, zeigt sich an einem Glück­wunsch Tat’janas. Scherzend wünscht sie dem Neugeborenen des älteren Bruders, gut zu wachsen und gut zu lernen, um dann Verkehrsminister zu werden. Aufstieg erschien Ende des 19. Jahr­hunderts den Bauern in der nordrussischen Provinz als möglich. Die ständische Herkunft hat­te wenige Jahrzehnte nach der Bauernbefreiung ihre begrenzende Kraft verloren.

Der Briefwechsel ist gut geeignet, um den Übergang einer bäuerlichen Gesellschaft von Ora­lität zur Literarität nachzuzeichnen. Auf diesen Aspekt hat die Linguistin Yokoyama den meis­ten Wert gelegt. Deutlich zeigt sich an den Briefen, dass auch Halbalphabetisierte selbstver­ständlich neue Medien nutzten. Die Publikation und die Analysen Yokoyamas erweisen sich nicht nur aus sprachwissenschaftlicher Sicht als wertvoller Beitrag zur Umgangssprache und zum lokal und generationell unterschiedlichen Sprachgebrauch.

Unterstützt wird der positive Eindruck durch die sorgfältige Edition des Briefwechsels in drei Versionen. Die erste Übertragung ist eine kritische Edition, deren Kommentar sich an Slavisten wendet und vor allem phonologische, morphologische und wortgeschichtliche Aspekte berührt. Der Kommentar zu der in ein normalisiertes Russisch übertragenen zweiten Version befasst sich insbesondere mit Fragen der Syntax, der Wortbedeutung sowie mit pragmatischen und soziolinguistischen Gesichtspunkten. Die eng­lische Variante mit ihrem historische und kulturelle Besonderheiten beleuchtenden Kommen­tar ermöglicht eine Verwendung des Textes auch in der Lehre. Zudem bietet Yokoyama gemäß ihrem pragmaphilologischen Zugang, der der Schreibsituation großen Wert beimisst, viel Ma­terial, um die Briefe zu kontextualisieren. Das Ausmaß der Archivarbeit ist enorm; deren Er­gebnisse eröffnen zahlreiche Perspektiven: Yo­koyama legt neben einer Genealogie der Žer­na­kovs auch die Abstammungsverhältnisse durch Patenschaften und Verwandtschaft verbundener Familien dar. Sie präsentiert Kurzbiographien aller in den Briefen genannter Personen, Fotografien der Familien, Ortsansichten sowie Kartenmaterial. Die Geschichte der einzelnen Lebensorte samt ihrer sozialen, ethnischen und religiösen Zusammensetzung ist beigefügt. Faksimiles erlauben es, die Briefe bis in ihre Materialität hinein ernstzunehmen. Einer solch gelungenen und materialreichen Publikation ist eine breite Verwendung in Forschung und Lehre zu wünschen.

Julia Herzberg, Bielefeld

Zitierweise: Julia Herzberg über: Olga T. Yokoyama: Russian Peasant Letters. Texts and Contexts. Part 1 and Part 2. Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2008. = Slavistische Studienbücher, N.F. 18. ISBN: 978-3-447-05653-3, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Herzberg_Yokoyama_Russian_Peasant_Letters.html (Datum des Seitenbesuchs)