Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 1, S. 133-135
Stefan Karner, Natalja Tomilina, Alexander Tschubarjan [u.a.] (Hrsg.) Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. Bd. 1: Beiträge. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2008. 1296 S., Abb. = Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderband 9,1. ISBN: 978-3-412-20231-6.
Stefan Karner, Natalja Tomilina, Alexander Tschubarjan [u.a.] (Hrsg.) Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968 – Pražskaja vesna i meždunarodnyj krizis 1968 goda. Bd. 2: Dokumente – Dokumenty. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2008. 1589 S. = Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderband 9,2. ISBN: 978-3-412-20231-6.
Das zweibändige Werk ist das Ergebnis eines internationalen Forschungsprojektes des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung in Graz und des Staatsarchivs für Zeitgeschichte der Russischen Föderation (ehemals ZK-Archiv der KPdSU), an dem 70 Forscher aus Europa und den USA beteiligt waren.
Der 1. Band stellt einige Studien zur Entstehung und zum Verlauf der tschechoslowakischen Reformbewegung der späten 1960er Jahre, die durch Zeitzeugen-Berichte ergänzt werden, in das europa- und weltpolitische Szenarium der Bewegungsmechanik des Kalten Krieges. Als wichtigste thematische Blöcke sind zu nennen: die Resonanz des Prager Frühlings in den Sowjetrepubliken und in Europa, der Kreml und die Entscheidung der KPdSU zum militärischen Engreifen in der ČSSR, die Rolle der Warschauer-Pakt-Staaten in diesem Entscheidungsprozess, die Reaktionen der Großmächte (einschließlich Chinas) auf die Prager Reformpolitik und deren gewaltsame Unterdrückung, die sicherheitspolitischen Folgen der militärischen Intervention, die Aktivitäten der Geheimdienste (KGB, CIA, Stasi etc.) in der tschechoslowakischen Krise.
Der 2. Band ist eine deutsch-, teilweise englisch-russische Quellenedition; sie enthält 232 Dokumente, vor allem die Beschlüsse des Politbüros der KPdSU und andere Entscheidungen der sowjetischen Partei- und Staatsspitze bzw. der Warschauer-Pakt-Staaten zur Entwicklung in der ČSSR, darunter viele bisher unter Verschluss gehaltene Dokumente aus dem Archiv des ehemaligen ZK der KPdSU. Erstmals in deutscher Sprache werden die Protokolle der Konferenzen der „Warschauer Fünf“ mit bzw. ohne Beteiligung der KPČ von Dresden bis Moskau veröffentlicht, ebenso die Stenogramme der Moskauer „Verhandlungen“ zwischen dem Kreml und Prag vom 23. bis 26. August 1968.
Das Genre der Kalten-Kriegs-Literatur lässt sich immer dann besonderes Engagement angelegen sein, wenn es um die Aufarbeitung systemkritischer Bewegungen im Realsozialismus geht, deren Wertorientierungen auf den ersten Blick westlichen („modernen“) politischen und sozialen Strukturen entsprechen. Der Bezugspunkt der „freien westlichen Welt“ (Vorwort zu Bd. 1) bleibt freilich im vorliegenden Fall der für den „Wettstreit der Systeme“ seit jeher charakteristischen selektiven Perspektive zu sehr verhaftet, um die Vielschichtigkeit des Prager Frühlings zu erfassen.
Diese Vielschichtigkeit wird zumindest an einer Stelle des Sammelbandes thematisiert. Gegen die Beiträge zur tschechoslowakischen Reformbewegung – mit ihrer preisenden Diktion für die „progressiven“ und „liberalen“ Kräfte in der KPČ-Führung, die in der Tat einiges für das Interpretationsmuster der Annäherung an westliche Wertvorstellungen (Pressefreiheit, Rechtssicherheit, autonome politische Öffentlichkeit etc.) hergeben – führt Pauer ins Feld, es seien dieselben Protagonisten des viel zitierten „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ gewesen, die ein Jahr nach der Okkupation die Massenproteste in Prag niederschlagen ließen und die sog. Knüppelgesetze unterzeichneten. Pauer möchte die Frage, wie man sich angesichts dieser Ambivalenz die politische Identität der Reformer vorstellen muss, nicht damit beantworten, es sei ihnen bloß um Machterhaltung gegangen, liefert jedoch eben dafür ein Argument. Dass Partei- und Staatsführung der ČSSR im Herbst 1968 das Angebot der Metallarbeiter zu einem politischen Generalstreik gegen das drohende Roll-back des Prager Frühlings ausschlugen, verweist auf den in der Literatur regelmäßig ausgeblendeten Konflikt zwischen Arbeiterschaft und KPČ um die Macht im Betrieb, den die Arbeiter unter syndikalistischem Vorzeichen gegen die von den Reformern eingeleitete Wiederherstellung der Herrschaft des industriellen Managements („Managersozialismus“) austrugen und der die Reformprogrammatik der Partei sprengte. Das lässt sich nicht mehr in dem Versuch unterbringen, den Prager Frühling für ein die Blöcke übergreifendes gesellschaftlich-politisches Wertesystem zu reklamieren.
Die selektive Wahrnehmung systemkritischer Bewegungen im Realsozialismus – an weiteren Beispielen im vorliegenden Band mangelt es nicht – zementiert die traditionellen Themen des Prager Frühlings mit den „essential variables“ der dem Staatssozialismus verschriebenen Radikalkur: Modernisierung der Wirtschaft (Beitrag Turek/Pick), kritisches Engagement der Intellektuellen (Beiträge Pichler, Prečan), Autonomiebestrebungen von Kultur und Kirche (Beiträge Cuhra, Kazarina), Aufbrechen des staatlichen Informationsmonopols (Beitrag Hoppe). Neben der Hervorhebung des Reformpotentials, das in den Experten und Intellektuellen steckte, kommt die ‚protodemokratische‛ Volksbewegung des Jahres 1968, die sich ja keineswegs immer unter der Fahne der Eliten sammelte, ziemlich schlecht weg; statt diese, wie üblich, als etwas fraglos Gegebenes einzuführen (Beitrag Tůma), hätte sie einmal im Detail untersucht werden können (etwa anhand der Entwicklung einer Genossenschaft oder einer Fabrik). Nicht versäumt wurde dagegen die Gelegenheit, sich analytischen Weitblick zu attestieren, indem man den Prager Frühling als das Menetekel schlechthin des Sowjetsystems erscheinen lässt: Vom Bezugspunkt des Zusammenbruchs des Realsozialismus her entdecken jetzt viele Autoren des Bandes rückblickend in allem die Indikatoren eines naturgesetzlich verlaufenden Verfallsprozesses bzw. einer unaufhaltsam aufsteigenden emanzipatorischen Bewegung. So spannen die Herausgeber den Bogen von 1968, als die Tschechen und Slowaken „für einen Frühling lang“ nach Europa zurückkehrten, bis zur Verwirklichung ihres „Traums“ 40 Jahre später mit der Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Mit diesem „Traum“ muss es aber irgendwie verwickelter gewesen sein, denn nach der ‚samtenen‛ Revolution von 1989 sprachen sich gerade mal drei Prozent der Tschechen und Slowaken in Meinungsumfragen für den „Kapitalismus“ als Entwicklungsperspektive ihres Landes aus.
Peter Heumos, Moosburg
Zitierweise: Peter Heumos über: Stefan Karner, Natalja Tomilina, Alexander Tschubarjan [u.a.] (Hrsg.): Prager Fruehling. Das internationale Krisenjahr 1968. Bd. 1: Beitraege. Boehlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2008. = Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts fuer Kriegsfolgen-Forschung, Sonderband 9,1. ISBN: 978-3-412-20231-6; Stefan Karner, Natalja Tomilina, Alexander Tschubarjan [u.a.] (Hrsg.): Prager Fruehling. Das internationale Krisenjahr 1968 – Pražskaja vesna i meždunarodnyj krizis 1968 goda. Bd. 2: Dokumente – Dokumenty. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2008. = Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderband 9,2. ISBN: 978-3-412-20231-6 , in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 133-135: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Heumos_Karner_Prager_Fruehling.html (Datum des Seitenbesuchs)