Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2912) H. 2, S. 299-300

Verfasst von: Peter Heumos

 

Inseln der bürgerlichen Autonomie? Traditionelle Selbstverwaltungsmilieus in den Umbruchsjahren 1944/45 und 1989/90. Hrsg. von Jiří Pešek und Tomáš Nigrin. Frankfurt/Main, Berlin, Bern, [usw.]: Lang, 2009. 269 S. = Prager Schriften zur Zeitgeschichte und zum Zeitgeschehen, 1. ISBN: 978-3-631-56374-8.

Der vorliegende Band ist aus einer Tagung des Instituts für internationale Studien der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Prager Karls-Universität hervorgegangen. Die Beiträge untersuchen, wie Universitäten in Mittel- und Ostmitteleuropa (Deutschland, Österreich, Tschechoslowakei, Polen, Ukraine) in den Umbruchphasen 1944/45 und 1989/90 auf den Zusammenbruch der nationalsozialistischen bzw. kommunistischen Diktatur reagiert haben. Zusammengehalten werden die 10 Beiträge durch die Frage nach der traditionellen Selbstverwaltung („Autonomie“) der Universitäten, die nach dem Ende der beiden Diktaturen überall – wenn auch in unterschiedlichem Maße – wiederhergestellt wurde. Über den universitären Bereich hinaus wird die Bedeutung des Prinzips „Selbstverwaltung“ an der Entwicklung der Prager Gemeindeverwaltung 1989/90 aus gesellschaftspolitischer Sicht diskutiert.

Auf das Editorial von Jiří Pešek und Tomáš Nigrin folgen Überlegungen Jiří Pešeks zur Rückkehr der west- und ostdeutschen Universitäten zur akademischen Autonomie nach 1945 bzw. nach dem Ende der DDR, Studien von Lucie Filipová über die Universitäten in der französischen Besatzungszone 19451948, von Ota Konrád über das österreichische Hochschulwesen 19451955, von Zdeněk Pousta über die Prager Karls-Universität in den ersten Nachkriegsjahren. Jiří Vykoukal beschreibt den Wiederaufbau der polnischen Universitäten 19451948, Bohdan Zilynskyj den der ukrainischen Universitäten 1944. Karel Malý und Václav Ledvinka analysieren den Wandel der rechtlichen Stellung der tschechischen Hochschulen nach der Wende bzw. den Übergang zur demokratischen Selbstverwaltung Prags 1989/90. Abschließend skizziert Petr Mlsna die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Westdeutschland 19451949.

Mit seinem vergleichenden Ansatz hebt sich das Buch vom Mainstream der tschechischen zeitgeschichtlichen Forschung ab, der selten über den Tellerrand der nationalen Geschichte hinausschaut. Dabei sind die Schwierigkeiten, für das als Anspruch zwar allgegenwärtige, faktisch aber von Land zu Land in unterschiedlichem Ausmaß verwirklichte Prinzip der „akademischen Autonomie“ einen passenden Interpretationsrahmen zu finden, nicht gering. So zeigt bereits die Gegenüberstellung der deutschen und der tschechischen Verhältnisse, welche Disparitäten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind: Während es zur Selbstverwaltung der deutschen Universitäten heißt, diese seien heute unfreier denn je (Christine Burtscheidt: Humboldts falsche Erben. Frankfurt/M. 2010), feiert Malý (s.o.) eine historisch einmalige Dimension der Autonomie der tschechischen Universitäten der Gegenwart.

Alle Beiträge des Bandes haben akademische Autonomie in „Reinkultur“ vor Augen. Nur in strikter Abgrenzung gegen staatliches Hineinregieren könne diese ihre traditionelle Aufgabe erfüllen: kritisches Wissen zu erzeugen, Modernisierung, Selbstkontrolle und reflexive Rückkoppelung der Gesellschaft zu leisten. Die Entmachtung akademischer Autonomie erschüttere die Gesellschaft bis ins Mark (S. 20). Dieser emphatische Liberalismus spiegelt die Erfahrung kommunistischer „Verstaatlichung der Gesellschaft“, erscheint aber überschwänglich im Blick auf Gesellschaften westlichen Typs. Deren säkularer Trend der Inanspruchnahme des Wissenschaftssystems zur Erweiterung von Steuerungskapazitäten ist wohl nicht einfach umkehrbar, weil Steuerung der Bestandserhaltung dient, indem sie Konflikte in administrativ bearbeitbare Formen bringt. Dessen sind sich die Herausgeber offenbar bewusst, wenn sie akademische Autonomie als „Luxus“ apostrophieren, den sich das System – jenseits aller Machtkalküle – im eigenen Interesse gönnen sollte (S. 20).

Der zivilgesellschaftliche Argumentationsrahmen des Bandes müsste präzisiert werden. Dass in Tschechien studentische Mitbestimmung in der universitären Selbstverwaltung nach 1989/90 massiv ausgebaut wurde (S. 175), sollte schon wegen der nachdrücklich geforderten Rückbindung der Universitäten an die Gesellschaft durch den Hinweis darauf ergänzt werden, dass sich andererseits Hochschulbildung in Tschechien qua Zugangschancen ‚nach unten‘, gegen die weniger gebildeten Schichten abschließt (Jiří Večerník / Petr Matějů (eds.) Ten years of rebuilding capitalism: Czech society after 1989. Prague 1999, S. 69). In Wirklichkeit geht es also um eine Entwicklung, die die am tschechischen Beispiel ansetzende himmelstürmende zivilgesellschaftliche Offensive des Bandes eher als Rückzugsgefecht gegen den neokonservativen „demokratischen Elitismus“ unserer Tage erscheinen lässt.

Peter Heumos, Moosburg

Zitierweise: Peter Heumos über: Inseln der bürgerlichen Autonomie? Traditionelle Selbstverwaltungsmilieus in den Umbruchsjahren 1944/45 und 1989/90. Hrsg. von Jiří Pešek und Tomáš Nigrin. Frankfurt/Main, Berlin, Bern, [usw.]: Peter Lang, 2009. = Prager Schriften zur Zeitgeschichte und zum Zeitgeschehen, 1. ISBN: 978-3-631-56374-8, http://dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Heumos_Pesek_Inseln_der_buergerlichen_Autonomie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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