Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Peter Heumos

 

Volker Weichsel: Tschechien in Europa. Nationalpolitische Traditionen und in­tegrationspolitische Konzepte. Berlin: LIT-Verlag, 2007. 273 S. = Studien zu Konflikt und Kooperation im Osten, 16. ISBN: 978-3-8258-0061-1.

Das vorliegende Buch untersucht die europapolitischen Konzeptionen der Parteien der Tschechischen Republik in den Jahren 1989–2004. Die Arbeit beruht auf einer breiten Literaturgrundlage und wertet umfangreiche Primärliteratur aus (Sitzungsprotokolle des Abgeordnetenhauses und offizielle Dokumente der Tschechischen Republik, Druckschriften der Parteien). Weichsels Begriff von Europapolitik ist nicht ressortspezifisch verengt, sondern wird anhand der wechselseitigen Verschränkung von Innen- und Außenpolitik entwickelt. Integriert wird die Untersuchung durch die Frage nach der historischen Genese und Entwicklung der nationalpolitischen Programme der tschechischen Parteien, die – so die Hauptthese – den Schlüssel zum Verständnis ihrer europapolitischen Vorstellungen und Zielsetzungen bilden. Als grundlegend für alle europapolitischen Konzepte wird die Regelung des Konflikts mit Deutschland und den Sudetendeutschen angesehen.

So ergibt sich, dass Weichsel seine politikwissenschaftliche Untersuchung mit einem soliden soziohistorischen ‚Unterfutter‘ ausstattet: Über weite Passagen ist sie eine gedrängte Zusammenfassung der verschiedenen Entwicklungs- und Bedeutungsvarianten des tschechischen nationalpolitischen Programms von seiner Entstehung in der Habsburgermonarchie bis zu seiner „Resurrektion“ im postkommunistischen Parteienspektrum. Dem explanativen Gewicht, das der Kontinuitätsproblematik beigelegt wird, entspricht der Scharfsinn, den Weichsel auf die Rekonstruktion der Gegenwart aus ihrer Vergangenheit verwendet (mit dem Paradebeispiel der Občanská demokratická strana). Dennoch bleibt gelegentlich im Unklaren, ob sich die konstatierte Kontinuität eher der interpolierenden Argumentation des Autors oder der Perspektive der historischen Akteure selbst verdankt. Zudem scheint es, dass Weichsel zu sehr dem Charme jenes anknüpfenden Denkens erliegt, das nach dem Zusammenbruch des Kom­munismus und der Rückkehr auf den ‚eigentlichen‘ Pfad der Geschichte Traditionen insgesamt neuen Glanz verliehen hat. Tradition ist für Weichsel unproblematische Hintergrundsüberzeugung, eine Art Meta-Gewissheit von fragloser Geltung. So sieht er einen Traditionsstrang des tschechischen nationalpolitischen Programms in der Interdependenz des Sozialen und des Nationalen, aber er sieht nicht, dass diese Verschränkung das Mittel der politischen Klasse war, um soziale Probleme ‚flexibel‘ zu bearbeiten, d.h. umzudefinieren, auf eine andere Lösungsebene zu verschieben, zu vertagen. Die Einsicht in die materiale Folgenlosigkeit des sozial-nationalen Amalgams als politische Strategie prägte z.B. die tschechische Bauernbewegung des 19. Jahrhunderts, und ohne diese Kritik kann die massenhafte Protestbewegung der Jahre 1918–1920 ebenso wenig erklärt werden wie die Absage an die Zwischenkriegsrepublik nach 1945 oder der Umstand, dass die Geschichte der nationalen Sozialisten, die jene Verknüpfung sozialer und nationaler Interessen auf ihre Fahne geschrieben hatten, nicht gerade als Erfolgsstory bezeichnet werden kann.

Der Hintergrundkonsensus eingelebter Traditionen kann demnach in politischen Systemen auch ein zwangsintegriertes Bewusstsein, das Ergebnis von Pseudokommunikation sein. Dann hätte freilich die Vergesellschaftung im Zuge der europäischen Integration (S. 13) einen ziemlich prekären Charakter.

Peter Heumos, Moosburg

Zitierweise: Peter Heumos über: Volker Weichsel Tschechien in Europa. Nationalpolitische Traditionen und integrationspolitische Konzepte. Berlin: LIT, 2007. = Studien zu Konflikt und Kooperation im Osten, 16. ISBN: 978-3-8258-0061-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Heumos_Weichsel_Tschechien_in_Europa.html (Datum des Seitenbesuchs)

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