Torsten Diedrich Paulus – Das Trauma von Stalingrad. Eine Biographie. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn 2008. 580 S., Abb., Ktn. ISBN: 978-3-506-76403-4.
Leben und Wirken des Generalfeldmarschalls Friedrich Paulus verdienen aus mehreren Gründen besondere Aufmerksamkeit. An führender Stelle an Planung und Durchführung des unseligen Unternehmens „Barbarossa“ beteiligt, ist Paulus ein prominentes Beispiel für die hohe Mitverantwortung der Wehrmacht für den nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg. Zugleich ist Paulus’ Name untrennbar mit der Niederlage der 6. Armee in Stalingrad verbunden, die bis heute einen prominenten Platz im deutschen wie post-sowjetischen Erinnerungshaushalt einnimmt. In der Gefangenschaft fand der ambitionierte Militär nach langem Zögern zur Kooperation mit dem ehemaligen Todfeind. Das späte Engagement für den Bund Deutscher Offiziere und Paulus’ Zeugenaussagen vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg fanden nach der Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft insofern ihre logische Fortsetzung in öffentlichen Auftritten gegen die westdeutsche Wiederbewaffnung sowie für eine Wiedervereinigung nach östlichen Vorstellungen. Auf diese Weise bündeln sich in der Biographie Paulus’ wie in einem Brennspiegel relevante Entwicklungslinien der jüngsten deutschen Vergangenheit samt ihrer Aufarbeitung. Daher ist es überraschend, dass der Generalfeldmarschall erst gut 50 Jahre nach seinem Tod (1957) zum Thema einer detaillierten Biographie, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, geworden ist. Aktuell fügt sich die Arbeit von Torsten Diedrich in neuere Forschungen über militärische Funktionseliten des Dritten Reichs ein, die über den (kollektiv-)biographischen Zugang genauere Aufschlüsse über Motive und Dimensionen des Zusammenwirkens von Wehrmacht und Nationalsozialismus gewinnen wollen.
Ein Grund für die späte Aufarbeitung der Biographie von Paulus ist sicherlich in der komplizierten Quellenlage zu suchen: Es existieren keine zeitunmittelbaren Selbstzeugnisse des Generals (S. 18). Die Analyse von Diedrich verdeutlicht somit die grundsätzliche Schwierigkeit, ohne derartige selbstreflexive Anhaltspunkte letzte Antriebskräfte eines ehrgeizigen, äußerst verschlossenen sowie durchaus auch opportunistischen Menschen offenzulegen. Eine Folge dieser Konstellation ist es, dass in der Darstellung der Mensch Paulus mitunter hinter die recht breit geschilderten operativen Ereignisse zurücktritt. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass den Soldaten Paulus Kontext, Zielsetzung sowie direkte und indirekte Auswirkungen des so genannten Ostfeldzugs nicht negativ berührten oder gar beunruhigten. „Pflichterfüllung“ und „unpolitisches Soldatentum“, das macht die Biographie von Diedrich klar, reichen zur Erklärung der – nur teilweise schweigenden – Übereinstimmung bzw. Kooperation von Militär und politischer Führung nicht aus. Der konkrete Einfluss von Karrieredenken, politisch-ideologischer Affinität oder militaristischen Vorprägungen auf diese Haltung ist aber auch im Fall Paulus nicht endgültig zu gewichten. Das „typische Produkt seiner Zeitepoche“ (S. 456) hatte individuelle Handlungsspielräume: Das machen alternative Entwicklungen eines Vincenz Müller oder eines Walther von Seydlitz-Kurzbach ebenso deutlich wie das Versagen im Kessel von Stalingrad. Der Oberbefehlshaber kapitulierte nicht für die Reste seiner Armee, sondern gab sich als „Privatperson“ gefangen und vermied so bis zuletzt eine Verletzung Hitlerscher Befehle oder vermeintlicher heroischer Wehrmachtstraditionen (S. 291–293). Paulus fiel es offenbar schwer, in grundsätzlichen Fragen Handlungsoptionen selbständig auszutarieren und zu bewerten. Im Zweifelsfall orientierte sich der nachdenkliche, wenig selbstsichere General bis zuletzt an entscheidungsfreudigen Leit- oder Vorbildern. Dieser Charakterzug lässt sich natürlich als Schwäche beschreiben und trug zu seiner Ergebenheit gegenüber Hitler oder Walther von Reichenau bei. Auf der anderen Seite war Paulus aufgrund einer Neuausrichtung an anderen Vorbildern (wie am bereits genannten Vincenz Müller) in der Lage, nach der Gefangennahme seine zunehmende Einsicht in Fehler und Verbrechen in antifaschistische Aktivität umzusetzen. Die Tiefe der neu formulierten Überzeugungen lässt sich erneut nicht zweifelsfrei ausloten. Dass sich der prominente Gefangene bzw. Spätheimkehrer sowohl in sowjetischer Gefangenschaft als auch in der DDR vergleichsweise gut umsorgt sah, hat dem an Status und Lebensqualität gelegenen Paulus die politische Umorientierung sicherlich erleichtert.
Insgesamt zeichnet die Biographie Diedrichs den komplexen Lebensweg des Sohns eines kaiserlichen Beamten auf beeindruckender Quellen- und Literaturbasis akribisch nach. Die Entschlossenheit Paulus, die militärische Laufbahn einzuschlagen und dort als Bürgerlicher zu reüssieren, spiegelt langfristig wirksame Grundstimmungen der deutschen Gesellschaft wider. Nach dem Ersten Weltkrieg gelang Paulus die Fortsetzung seiner Karriere in der Reichswehr. Die Binnenperspektive unterstreicht den dynamischen, mit Sicht auf militärische Loyalitäten mehrfach wirksamen Aufschwung, den Rüstung, Planung und militärische Karrieren unter Hitler erfuhren – sie verdeutlicht zudem, dass der beliebte Habitus eines „unpolitischen“ Soldaten in der Weimarer Republik letztlich bloße Fassade war. Paulus erwies sich unter diesen Rahmenbedingungen als ein für Hitler wie für die Wehrmachtführung verlässlicher, engagierter und äußerst talentierter Planer. Er erkannte die Bedeutung der Panzertechnik für den kommenden Krieg und nutzte ohne Bedenken die immensen Möglichkeiten, die das Dritte Reich der Kriegführung zur Verfügung stellte. Die Übernahme des Oberbefehls der 6. Armee im Januar 1942 liest sich als Vertrauensbeweis Hitlers, der sich für Paulus offenkundig noch zentralere Verwendungen im nationalsozialistischen System vorstellen konnte. Aus dieser Perspektiven stellen Einkesselung und Zerschlagung der Paulus-Armee ein Beispiel dafür dar, wie verderblich die übergroße Loyalität militärischer Funktionseliten zum Führer auf die Deutschen selbst zurückschlug. Im übrigen ist es in Gefangenschaft nie zur Aufstellung einer neuen Paulus-Armee, die dieses Mal gegen die Wehrmacht hätte kämpfen sollen, gekommen. Entsprechende Gerüchte oder Anschuldigungen, die noch lange nach 1945 kolportiert wurden, zeigen, dass von westlicher Seite eine angemessene Würdigung der komplexen Persönlichkeit Paulus’ mit ihren radikalen Richtungswechseln nach 1943 in Hochzeiten des Ost-West-Konflikts kaum angestrebt wurde.
Die vorliegende Biographie behandelt ihren Gegenstand mit angemessenem Respekt und mit einiger Empathie. Diedrich leuchtet das Spannungsfeld von zeitgenössischem Umfeld und individuellen Handlungsmotiven aus. Ob äußere Umstände und allgemein-gesellschaftlich vermittelte Prägungen oder persönliche Pläne und Überzeugungen das Handeln im konkreten Fall bestimmten, wird in der Diskussion über Leben und Wirken des Generalfeldmarschalls jedoch weiterhin von zentraler Bedeutung sein.
Andreas Hilger, Hamburg
Zitierweise: Andreas Hilger über: Torsten Diedrich Paulus – Das Trauma von Stalingrad. Eine Biographie. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn 2008. ISBN: 978-3-506-76403-4, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 456-458: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hilger_Diedrich_Paulus.html (Datum des Seitenbesuchs)