Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 441-442

Verfasst von: Andreas Hilger

 

Ilya Zemtsov / John Farrar: Gorbachev. The Man and the System. New Brunswick, NJ, London: Transaction Publishers, 2008. XVII, 462 S., Tab. ISBN: 978-1-4128-0717-3.

Das Buch ist ein Resultat interdisziplinärer Forschung. Den Soziologen Zemtsov interessieren insbesondere Funktionsweisen persönlicher Netzwerke, anhand derer er Michail Gorbačevs Aufstieg zur Macht und seine politischen Aktivitäten ergründen will. Der Fokus des US-Militär- und Abrüstungsexperten Farrar liegt auf der internationalen Politik. Für ihn stehen Motivationen und Glaubwürdigkeit sowjetischer Rüstungskontroll- und Abrüstungsinitiativen im Mittelpunkt. Hinter diesen Leitthemen verbergen sich die alten Fragen nach den letzten Zielen, der Kohärenz und den möglichen Wandlungen der Politik Gorbačevs. Beide Autoren urteilen kritisch sowohl über die Reformbereitschaft des Generalsekretärs als auch über die Tragweite seines internationalenNeuen Denkens. Ihre Argumente beziehen sie indes nur aus der Politik bis zum Sommer 1987: Bei dem Buch handelt es sich um einen Reprint der 1989 erschienenen Ausgabe.

Der Verlag lässt den Leser mit der Frage, warum diese zeitgenössische Bestandsaufnahme knapp 20 Jahre später noch einmal aufgelegt wurde, allein. Die Quellenlage zur Ära Gorbačev hat sich seit 1989 wesentlich verbessert. Der Forschungsstand zu nationalen und internationalen Aspekten der sowjetischen Geschichte der 1980er Jahre ist mit dem von 1987 nicht mehr vergleichbar. Einige Bilanzen und Spekulationen der Autoren haben sich längst als überholt oder als unhaltbar herausgestellt. Ein Beispiel ist die sowjetische Afghanistanpolitik. Das tiefe Misstrauen der Autoren gegen Moskauer Ansagen wurde durch den sowjetischen Abzug ab Mai 1988 widerlegt (S. 255256). Daneben ist Gorbačev dem von den beiden Autoren vergleichsweise positiv gezeichneten chinesischen Modell nicht gefolgt. Die Ereignisse des Jahres 1989 in China und in Osteuropa zeigten, auf welch dünnem Eis sich zeitgenössische Beobachter mit kernigen Voraussagen, die nicht mehr als eine bloße Fortschreibung traditioneller Deutungsmuster waren, in diesen dynamischen Umbruchjahren bewegten (S. 357358, 366367).

Aus der neuerlichen Lektüre vergangener Außenansichten der sowjetischen Politik lässt sich dann ein Gewinn ziehen, wenn man das Buch als Quelle versteht. Einerseits als Quelle für die Geschichte der westlichen Soviet Studies in den späten 1980er Jahren, und andererseits als Zeugnis für die allgemeine westliche Rezeption von Glasnost und Perestrojka. Mit diesem Verständnis führt das Buch noch einmal nachdrücklich vor Augen, dass im Westen nicht nur unversöhnliche Falken die sowjetische Gesamtpolitik ab 1985 zunächst als ambivalent wahrnehmen konnten. Zugleich zeigt sich in dem Werk jedoch ein enormes Ausmaß von Misstrauen gegenüber allen Initiativen und Verlautbarungen der neuen Kreml-Führung, das offenbar große Teile von Wissenschaft und Politik gerade der westlichen Supermacht beherrschte. Aus dieser Grundhaltung heraus forderten die Autorenstellvertretend für zahlreiche Beobachter und Entscheidungsträgerimmer wieder neue Beweise für einen fundamentalen Gesinnungswandel des sowjetischen Gegenübers, ohne sich selbst substantiell zu bewegen. Ihr Denken blieb dem Null­summenspiel des Kalten Kriegs verhaftet. Ihre Zwischenbilanz versäumte, neben möglichen Risiken auch Chancen der neuen Kreml-Politik wahrzunehmen. Derartige westliche Positionen waren bereits 1987 nicht mehr alternativlos: Zu denken ist hier etwa an Genschers Plädoyer vor dem World Economic Forum in Davos Anfang Februar 1987, in dem er vehement forderte, Gorbačevs Angebote ernst nehmen. Von einer derartig positiven Einschätzung sind die beiden Autoren weit entfernt. Ihr Buch unterstreicht erneut, dass sich der Zerfall der UdSSR ohne angemessene Berücksichtigung der außenpolitischen Komponenten nicht vollständig erklären lässt.

Andreas Hilger, Hamburg

Zitierweise: Andreas Hilger über: Ilya Zemtsov, John Farrar: Gorbachev. The Man and the System. New Brunswick, NJ, London: Transaction Publishers, 2008. XVII, 462 S., Tab. ISBN: 978-1-4128-0717-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hilger_Zemtsov_Gorbachev.html (Datum des Seitenbesuchs)

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