Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 65 (2017), H. 2, S. 345-346
Verfasst von: Helena Holzberger
Sergej N. Abašin: Sovetskij Kišlak. Meždu kolonializmom i modernizaciej. Moskva: NLO, 2015. 848 S., Abb. = Biblioteka žurnala „Neprikosnovennyj zapas“. ISBN: 978-5-4448-0219-9.
Zentralasien unter russischer und sowjetischer Herrschaft ist seit der historiographischen Entdeckung des Vielvölkerreiches in den 1990 Jahren zum Objekt vieler historischer Untersuchungen geworden. In seiner voluminösen Monographie fügt der Petersburger Anthropologe Sergej Abašin diesen eine Studie zur lokalen Ebene hinzu, in der er das Schicksal des usbekischen Kišlak Ošoba, eines zentralasiatischen Dorfes im heutigen Tadschikistan, von seiner Eingliederung ins russische Imperium bis zum Jahr 1995 verfolgt. Im Zentrum stehen die lokale Gesellschaft und ihr Wandel unter russischem und sowjetischem Einfluss, der Alltag und die Riten der Bewohner, die Formierung und die Herrschaft neuer lokaler Eliten, die wirtschaftliche Entwicklung zum Baumwollkolchos sowie die örtliche islamische kulturelle Praxis. Dabei zeigt der Autor, dass stets nur ausgewählte Elemente von außen übernommen und dann lokal abgewandelt wurden, sodass quasi eine soziale und kulturelle Hybridität entstand.
Die dichte und interdisziplinäre Studie stützt sich gleichermaßen auf eine kritische Analyse zahlreicher historischer Quellen wie auf intensive Feldforschungen des Autors. Den Lokalitätstheorien des Ethnologen Arjun Appadurai folgend, möchte Abašin aufzeigen, wie sich die Gesellschaft in unterschiedlichen historischen Epochen zusammengefügt und reorganisiert hat. Das wesentliche Ziel seiner Arbeit ist die Dekonstruktion der Dichotomie „Traditionalität“ und „Moderne“, die bisher für die Analyse der zentralasiatischen Gesellschaften benutzt wurde. Dies geschieht einerseits durch eine intensive Kritik des sowjetischen ethnographischen Konzeptes der Überbleibsel (perežitki), durch welches interne Veränderungen der zentralasiatischen Gesellschaft nicht nur ignoriert, sondern sogar als unmöglich dargestellt wurden. Zum anderen versucht Abašin in der Tradition des Revisionismus in der Stalinismusforschung, die Sowjetisierung der örtlichen Gesellschaft von innen her aufzuspüren, womit er sich in den Forschungsdiskurs um sowjetische Subjektivität einschreibt.
Die Arbeit ist nicht monographisch aufgebaut, sondern besteht aus einzelnen Fallstudien, die teilweise bereits veröffentlicht worden sind. Die einzelnen Kapitel sind, zusätzlich zu den einleitend eingeführten Analysebegriffen, nocheinmal durch spezifizierte Theorien gerahmt und somit in sich geschlossen. Der rote Faden ist die Gegenüberstellung der lokalen Sicht auf die Eroberung und die Modernisierung Ošobas mit dem entsprechenden historischen Narrativ bzw. dem aktuellen Forschungsstand. Die ersten fünf Kapitel bieten Analysen der Eroberung und der Wandlung des Kišlaks. Darauf folgen Beiträge zur sowjetischen Gesundheits- und Familienpolitik als Beispiele für die Modernisierung, anthropologische Beschreibungen zum praktischen Islam und zur machala (der selbstverwalteten Nachbarschaft), sowie zuletzt ein Kapitel zur fotografischen (Selbst-)Repräsentation.
Einführend beleuchtet Abašin die Eroberung des usbekischen Dorfes, das im Zuge der sowjetischen Landteilung jedoch Tadschikistan zugeschlagen wurde, aus drei Perspektiven: dem imperialen und dem nationalen Narrativ, das mit Hilfe von Schriftquellen rekonstruiert wird, sowie einem lokalen, das auf eigenen Beobachtungen und Oral History basiert. Ein interessantes Ergebnis ist, dass die Kurbaši (wie sich die Basmači, die antikommunistischen Aufständischen nach 1917, selbst nannten) in der lokalen Erinnerungskultur zum Identifikationselement geworden sind. Aufgrund der Verehrung von Eigenschaften wie Mut, Stärke etc. standen sie nicht im Gegensatz zur proklamierten sowjetischen Identität und wurden dadurch zu einem Teil des Subjektivitätskonstrukts. Einen wirtschaftshistorischen Fokus wählt Abašin für die Betrachtung der Rolle Ošobas sowohl im russländischen Reich wie auch in der Sowjetunion. Er kann nachweisen, dass in beiden Epochen das wichtigste Machtinstrument der zentralen Herrschaft die Kategorisierung war, erst durch imperiale Besteuerungstabellen, später durch die Einteilung in die sowjetischen Klassen, auf deren Grundlage Ressourcen verteilt und unterschiedliche Militärdienste zugeordnet wurden. Weiterhin beschreibt er den Aufstieg lokaler Eliten, den stalinistischen Terror sowie die ökonomischen Paradoxien des Spätsozialismus.
Das Bestreben, die hierarchische Binarität früherer Forschung aufzulösen, wird in dem Kapitel über das Krankenhaus in Ošoba besonders deutlich. Dabei nimmt der Autor explizit keine klassische medizinhistorische Betrachtung vor, sondern analysiert das Krankenhaus als Institution im Sozialismus. Der Aufbau der sowjetischen Medizin brachte nicht nur konkrete Maßnahmen mit sich, z. B. Massenimpfungen, sondern hatte für die lokale Bevölkerung auch eine veränderte Körperwahrnehmung zur Folge, die der Autor aus einer gender-geleiteten Perspektive verdeutlicht. Abašin beschreibt die Erfahrung, sich als Frau erstmals vor einem männlichen Arzt für eine Untersuchung ausziehen zu müssen, und schlägt damit auch einen Bogen zur zahlreichen Forschung über die sowjetischen „Entschleierungskampagnen“. Besondere Beachtung verdient seine Untersuchung des Verhältnisses zwischen den sowjetischen Ärzten und der lokalen Bevölkerung sowie der westlichen Medizin und den lokalen Heilmethoden. Abašin zeigt, dass die sowjetische Medizin oft als abgehoben wahrgenommen wurde und ihren Vertretern weniger vertraut wurde als Heilern und Würdenträgern der lokalen islamischen Gesellschaft. Ein Grund sei u. a. die Praktik der sowjetischen Medizin gewesen, Krankheiten und Heilmitteln streng zu kategorisieren, sodass oft das Gefühl entstand, dass Ursachen nicht behandelt wurden. Sogar der ehemalige Chefarzt des Krankenhauses integrierte traditionelle Methoden in seine Schulmedizin und legitimierte diese durch eine professionelle Beschreibung.
Mit der Untersuchung von visuellem Material wählt der Autor in seinem Kapitel zur Fotografie einen weiteren innovativen Ansatz, wobei er zeigt, wie sich die Fotografie von einem Instrument imperialer Herrschaft über ihre propagandistische Vereinnahmung in den Massenmedien allmählich zu einem Medium der selbstbestimmten Repräsentation wandelte. Allerdings werden hier die einzelnen Narrative nacheinander statt parallel vorgestellt, indem Abašin zuerst den kolonialen Blick der Fotografien des berühmten Turkestan-Albums von 1871–1872, danach einzelne Bilder des sowjetischen Fotojournalisten Maks Penson und zuletzt private Fotoalben einiger Bewohner Ošobas analysiert. Zuletzt ist ein Abbildungsteil in der Mitte des Buches vorhanden, worin sich von Abašin selbst zum Zwecke anthropologischer Analysen aufgenommene Materialien, die leider zum Teil schlecht reproduziert sind, befinden.
Abašin gelangt zu dem Fazit, dass die sowjetische Modernisierung zwar unterschiedliche Formen der Hegemonie in sich barg, allerdings nicht nur Unterwerfung und Widerstand hervorrief, sondern auch zur Hybridität führte. Mit diesem Buch hat der Autor die Forschung zum russländischen Imperium bzw. zur Sowjetunion um eine detaillierte Langzeitmikrostudie, die den Wandel aus einer lokalen Perspektive untersucht, erweitert. Der Wert dieses Buches wird zudem durch die Wiedergabe von zahlreichen Auszügen schwer zugänglicher Quellen erhöht. Ein kleinerer Kritikpunkt ist das Fehlen eines Literaturverzeichnisses. Unkonventionell ist am Ende des Werkes die beeindruckende Selbstreflexion des Autors, in der er seine Wandlung zum post-sowjetischen Anthropologen analysiert. Jedoch hätte ein zusätzliches abschließendes inhaltliches Resümee es erleichtert, die Fülle der Ergebnisse zu überblicken. Das Zusammenspiel aus einem quellenbasierten Blick von außen, einer dichter Betrachtung von innen sowie einer transparenten methodischen Reflexion macht die Auflösung der bisherigen Forschungsbegriffe in Richtung einer hybriden Betrachtung der zentralasiatischen Gesellschaft uneingeschränkt überzeugend und das Buch zu einer Pflichtlektüre für alle, die sich mit diesem Raum oder mit sowjetischer Nationalitätenpolitik beschäftigen.
Zitierweise: Helena Holzberger über: Sergej N. Abašin: Sovetskij Kišlak. Meždu kolonializmom i modernizaciej. Moskva: NLO, 2015. 848 S., Abb. = Biblioteka žurnala "Neprikosnovennyj zapas". ISBN: 978-5-4448-0219-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Holzberger_Abasin_Sovetskij_Kislak.html (Datum des Seitenbesuchs)
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