Aleksej N. Camutali (otv. red.) Nikolaj I: Ličnost’ i ėpocha. Novye materialy. [Nikolaus I. Persönlichkeit und Epoche. Neue Materialien.] Izdat. Nestor-Istorija S.-Peterburg 2007. 523 S.

Wissenschaftliche Arbeiten über die Persönlichkeit und die Herrschaftsmethoden von Kaiser Nikolaj I. von Russland (1796–1855, Selbstherrscher seit 1825) verlangen besondere Aufmerksamkeit, weil in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland die Konflikte der beginnenden industriellen Modernisierung, des Aufbruchs einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit und des Beharrungsvermögens der Autokratie hinter einer glanzvollen Fassade extrem komprimiert auftraten, ehe sie nach 1861 in der Reformperiode gleichsam explodierten. Nikolaj I., in der historischen Wahrnehmung einge­zwängt zwischen der Niederschlagung des Dekabristenaufstands von 1825, der polnischen Re­volution von 1830 und des ungarischen Nationalaufstands von 1849 sowie Russlands Niederlage im Krimkrieg 1853/56, gilt als Sinnbild der reaktionären „Heiligen Allianz“. Der „Gendarm Europas“ wurde dafür verantwortlich gemacht, dass sich in den dreißiger Jahren im Westen eine regelrechte Russophobie ausprägte. Lediglich als fürsorglicher Familienvater bekam Nikolaj I. positive Noten. In Wirklichkeit besaß er eine Vita, die faccettenreicher war als das schlichte Porträt eines erzkonservativen militaristischen Bürokraten, der Russland mit seinem Selbstverständnis lediglich zum letzten großen Höhepunkt der Autokratie geführt hat. Selbst wenn dieses Klischee nicht von ihm zu lösen ist, wird es doch durch eine Gesamtbewertung der Person und Epoche Nikolajs I. relativiert. Diesem Anliegen folgten bereits die 2000 in Moskau veröffentlichte zweibändige Chrestomatie „Nikolaj pervyj i ego vremja. Dokumenty, pis’ma, dnev­niki, svidetel’stva sovremennikov, trudy istorikov“, der gleichfalls 2000 in Moskau erschienene Band „Nikolaj I. Muž, otec, imperator“ sowie der 2002 in Moskau herausgegebene Band „Niko­lajevskaja ėpocha. Slovo rus­skogo carja. Apo­logija russkogo rycarja“. Der hier vorzustellende Band vereint Auszüge aus Dokumenten zu den geistigen Grundlagen Nikolajs I., nämlich No­tizen, Reden, Manifesten und Briefen des Monarchen, außerdem Einschätzungen von Historikern seiner Zeit sowie Erinnerungen von Zeitgenossen – ein umfassender Querschnitt zum Wirken und zur Wirkung des Kaisers. Im Un­terschied zu den vorausgegangenen Publikationen, die Dokumente aus Veröffentlichungen des 19. Jahrhunderts („Russkaja starina“, „Russ­kij archiv“ u.a.) enthalten, vereint der 2007 erschienene Band nahezu ausschließlich Archivma­terial, das hier erstmalig publiziert wird. Etwa 70 % der Dokumente sind im Original in fran­zösischer Sprache abgefasst und wurden für den Band ins Russische übersetzt. Die Archivalien sind nicht nach Quellengattungen geordnet, sondern – zweckmäßiger – jeweiligen historischen Sachzusammenhängen zugeordnet. Ein weiterer Vorteil besteht in der gründlichen wissen­schaftlichen Bearbeitung der Dokumente durch inhaltliche und historiographische Kommentierung sowie in der Angabe der Archivstandorte und -signaturen. Ein umfangreiches Personenregister rundet den überaus lobenswerten wissenschaftlichen Apparat ab.

Der Band besteht aus einer Einleitung, in der in die großen Probleme der Herrschaftszeit Nikolajs I. und in die editorischen Grundlagen des Bandes eingeführt wird. Daran schließen sich fünf Teile mit den Dokumenten an. Der erste und zugleich umfangreichste Teil, die „Thron­erhebung“, ist in vier Abschnitte untergliedert, die dem Erbe der Herrschaft Alexanders I., dem Dekabristenaufstand am 14. Dezember 1825, dem Prozess gegen die Dekabristen und der Krönung Kaiser Nikolajs I. gewidmet sind. In dem ersten Abschnitt erwecken zwei Dokumente ob des Umfangs und der Tiefe ihrer Gesellschaftsanalyse besondere Aufmerksamkeit, und zwar erstens der Text „Šestoj period carstvovani­ja Aleksandra Pervogo ot 1818 goda do 1825“ aus einer umfassenden Handschrift des Schriftstellers und Verlegers S. N. Glinka, der als Her­ausgeber des „Russkij vestnik“ bekannt geworden ist, und zweitens die aus der Feder des früheren Mitglieds des Wohlfahrtsbundes N. I. Kutuzov stammende Handschrift: „O sostojanii Ros­sijskoj imperii v otnošenii ee vnutrennego ustrojstva“, die Nikolaj I. im März 1826 vorgelegt wurde. Sie enthält nicht einfach eine negative Analyse der Herrschaft Alexanders I. in des­sen letzten Regierungsjahren, sondern behan­delt das Denken, die sozialökonomischen Probleme und die politische Situation in der gesamten russischen Gesellschaft jener Zeit. Die Dokumente zum 14. Dezember 1825 reflektieren im zweiten Abschnitt nicht nur den Ablauf der Ereignisse am Tag des Aufstands, sondern legen aus der Sicht von Beteiligten beider Seiten die Möglichkeiten und Grenzen der Bewegung hinsichtlich ihres Einflusses auf Herrschaft, Politik und Gesellschaft in Russland dar. Der dritte Abschnitt befasst sich mit der gerichtlichen Untersuchung gegen die Dekabristen und der Hinrichtung von fünf Verschwörern. Hier werden persönliche Aufzeichnungen Kaiser Nikolajs I. in den Mittelpunkt gestellt, deren wissenschaftliche Bearbeitung für den ganzen Band beispielgebend ist. Im vierten Abschnitt verzichten die Herausgeber darauf, einfache emotionale Schilderungen über die Krönung Ni­ko­lajs I. abzudrucken. Sie stellen Dokumente in den Band, die Auskunft über die Vorbereitungen und die Organisation der Krönung geben, sowie fragmentarische Notizen, die zeigen, welchen Aufwand an Geld und Mitteln dieses Ereignis erforderte. Der zweite Hauptteil des Bandes fasst Briefe, Resolutionen, Anweisungen und Aufzeichnungen Ni­ko­lajs I. zusammen, die er persönlich im Zusammenhang mit unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen geschrieben hat: zur Hinrichtung der Dekabristen, zur polnischen Revolution von 1830, zur Cholera-Epidemie in Russland, zur Revolution 1848 in Deutschland oder zur Arbeit seiner Geheimpolizei, der III. Abteilung. Besondere Aufmerksamkeit verdient Nikolajs I. Instruktion vom 2. Juni 1853 für den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilev und Smolensk, P. N. Ignat’ev, in welcher der Kaiser die Grundsätze für die Arbeit der Generalgouverneure und für das Verwaltungssystem seines Reichs dargelegt hat. Der vierte Teil betrachtet das Leben und Werk Nikolajs I. aus der Sicht von Zeitgenossen. Neben den Aufzeichnungen N. P. Meščerskijs oder P. D. Kiselevs werden auch Zeugnisse unbekannter Beobachter wiedergegeben, die z.B. über die Erkrankung Nikolajs I. im Jahre 1829 oder über den großen Brand im Petersburger Win­terpalais von 1837 berichten. Kaiser Nikolaj I. reiste gerne¸ oft genug spontan und überraschend, durch Russland und in das Ausland. Es ist legitim, in den Band einen speziellen Teil über Nikolajs Reisen aufzunehmen, der sich jedoch auf anekdotische Erinnerungen an einzelne Episoden während der innerrussischen Reisen be­grenzt. Der „Gendarm Europas“ hat jedoch aus­gedehnte politische und dynastische Reisen nach Preußen, Österreich oder Italien unternom­men, auf denen er die Politik der „Heiligen Allianz“ aktiv vertreten und seine umfangreichen verwandtschaftlichen Beziehungen gepflegt hat. Der fünfte Teil beinhaltet schließlich Archivmate­rialien, die das Ableben und die Beisetzung des Imperators zum Gegenstand haben.

Die Herausgeber an der Akademie in St. Petersburg haben die gesamte Quellenedition auf zwei Bände konzipiert. Der zweite Band befindet sich in Vorbereitung und soll den Titel tragen: „Nikolaj I. Politika i gosudarstvennaja dejatel’nost’“.

Detlef Jena, Rockau / Schkölen

Zitierweise: Detlef Jena: Aleksej N. Camutali (otv. red.): Nikolaj I: Ličnost’ i ėpocha. Novye materialy. Izdat. Nestor-Istorija S.-Peterburg 2007. ISBN: 5-98187-187-3, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Chronik/Jena_Camutali_Nikolaj_I.html (Datum des Seitenbesuchs)