Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), H. 3, S. 501-502

Verfasst von: Felix Jeschke

 

Mary Gluck: The Invisible Jewish Budapest. Metropolitan Culture at the Fin de Siécle. Madison, WI: University of Wisconsin Press, 2016. XIII, 251 S., 40 Abb. = George L. Mosse Series in Modern European Cultural and Intellectual History. ISBN: 978-0-299-30770-7.

Der Titel von Mary Glucks Buch schreit förmlich nach Erläuterung, denn die jüdische Kultur Budapests an der Wende des 20. Jahrhunderts war in vieler Hinsicht alles andere als unsichtbar. Nach Warschau hatte Budapest die größte jüdische Gemeinde der Welt und mit der von Ludwig Förster erbauten Großen Synagoge in der Tabakgasse das größte jüdische Gotteshaus Europas. Das sprunghafte Bevölkerungswachstum dieser Zeit wurde auch von vielen jüdischen Einwanderern verursacht und brachte der Stadt beim jüdischen Schriftsteller Lajos Hatvany die Bezeichnung „Chicago des Balkans“ ein. All dies machte die Stadt zur Zielscheibe antisemitischer Attacken, die auch außerhalb Ungarns Widerhall fanden. Der Wiener Bürgermeister Karl Lueger prägte den Ausdruck „Judapest“, und als ungarischer Reichsverweser in der Zwischenkriegszeit verachtete Miklós Horthy die multikulturelle „sündhafte Stadt“ (bűnös város). Das ungarische Judentum war dabei in einer paradoxen Situation. Der Österreichisch-Ungarische Ausgleich von 1867 brachte ihnen die rechtliche Gleichstellung mit Christen, im Gegenzug beteiligte sich die jüdische Gemeinde enthusiastisch an der Magyarisierungspolitik der liberalen Regierung und entwickelte in Budapest „a unique sense of belonging and symbolic ownership“ (S. 9). Die jüdischen Integrationsbestrebungen wurden aber von der Mehrheitsgesellschaft im Laufe der Jahre immer skeptischer gesehen. Der Antisemitismus der Bevölkerung kulminierte in der Ritualmordaffäre von Tiszaeszlár (1882–1883), die Gluck im 2. Kapitel untersucht. Es wurde klar, dass Juden trotz aller Assimilierung nie gleichwertige Mitglieder der implizit ethnisch verstandenen ungarischen Nation werden konnten. Der Gedanke, dass durch die Fusion von Juden und Christen ein neues nationales Bürgertum entstehen könne, entpuppte sich als „seductive myth“ (S. 58). Gleichzeitig war aber auch unbestreitbar, dass die Rolle der Juden in der Gesellschaft ein wichtiger Angelpunkt der ungarischen Identitätsdiskurse geworden war.

Was also meint Gluck in diesem Kontext mit der Unsichtbarkeit des jüdischen Budapest? Sie schreibt, ihr Buch sei „an attempt to retrieve the lost contours of this Jewish-inflected cultural world, famous throughout Central Europe for its edgy nightlife, innovative entertainment industry, and bohemian cultural life. I have called this world ‘invisible’ because of its pervasive stigmatization by official culture, which rendered it if not technically invisible then symbolically unacknowledged.“ (S. 3) Die antisemitische Stigmatisierung Budapests als modernes Babylon hat laut Gluck die wissenschaftliche Aufmerksamkeit von der eigentlichen jüdischen Kultur der Stadt abgelenkt. Dies sucht sie mit faszinierenden Kapiteln zu Ausdrucksformen des jüdischen Lebens in Budapest zu korrigieren. Sie untersucht den Fall des Industriemäzens und ersten jüdischen Parlamentsabgeordneten Mór (Moritz) Wahrmann (1832–1892), der von vielen als Idealtyp des assimilierten liberalen Juden angesehen wurde. Wahrmann war wie kaum ein anderer in der Lage, ein Selbstbild als ungarischer Patriot und als gläubiger und in der Gemeinde aktiver Jude zu vereinen. Allerdings zeigt sein Fall auch die Grenzen der Assimilierung auf. 1882 lieferte sich Wahrmann ein Pistolenduell mit dem Abgeordneten Győző Istóczy, das durch eine erhitzte Parlamentsdebatte über die Einwanderung orthodoxer Juden aus Russland ausgelöst worden war (beide Duellanten blieben unverletzt). Der Konflikt zwischen dem liberalen Budapester Juden Wahrmann und dem nationalistischen Antisemiten Istóczy, der aus einem westungarischen Dorf stammte, wurde von der Presse akribisch verfolgt und zum Ausdruck einer grundlegenden Spaltung Ungarns zwischen Judentum und Christentum, Stadt und Land, Liberalismus und Nationalismus hochstilisiert. Meist brodelte dieser Konflikt jedoch unter der Oberfläche des angeblich integrativen Liberalismus. Das Ventil der jüdischen Alterität war Humor, der sogenannte Judenwitz, den Gluck etwas überschwänglich als „lingua franca of fin-de-siècle Budapest“ (S. 104) bezeichnet. Sie bezieht sich vor allem auf die Satirezeitschrift Borsszem Jankó (Hans Pfefferkorn). Deren Redakteur Rudolf Ágai war einerseits liberaler Patriot, und Borsszem Jankó wurde nach dem Ausgleich im Jahr 1867 die offizielle Satirezeitschrift der Regierung. Andererseits standen die Figuren, die die Seiten der Zeitschrift bevölkerten, keineswegs immer im Einklang mit der offiziellen Assimilierungspolitik. So schrieb Ágai eine Kolumne unter dem Pseudonym Itzig Spitzig, einem stereotyp mit großer Nase und listigem Blick dargestellten orthodoxen Juden. Gluck schreibt, dass „Spitzig spoke a scandalously ungrammatical form of Hungarian, which betrayed his linguistic and cultural foreignness” (S. 124). Es ist schade, dass Gluck die Sprache von Spitzig und den anderen Figuren, mit denen Borsszem Jankó das ungarische Judentum und den Antisemitismus gleichermaßen verspottete, nur in Übersetzung und nicht im Original wiedergibt. Weitere Kapitel behandeln die Budapester Varieté-Kunst und die Entwicklung einer normativen Bürgerlichkeit anhand von Ratgeberliteratur.

Die These des unsichtbaren jüdischen Budapest mag manchem Leser etwas schwammig erscheinen. Wie kann eine Kultur als jüdisch untersucht werden, wenn sie sich gerade im Sinne einer verschmolzenen ungarisch-jüdischen Modernität dieses einengenden Attributs zu entledigen suchte? Und wenn viele der Akteure keine Juden waren bzw. auf eine solche Identifizierung keinen Wert legten oder sie sogar ablehnten? Die Frage, wie jüdisch die von ihr untersuchte Kultur eigentlich war, stellt sich immer wieder. Gluck schreibt beispielsweise, dass Varietés in Budapest „Jewish-identified“ waren (S. 148), aber natürlich waren viele Darsteller keine Juden, und das Publikum „[was] drawn from all layers of the population“ (S. 153). Dieses zentrale Paradox der jüdischen Moderne ist bisher in der englischsprachigen Literatur von Scott Spector, Todd Presner, Yuri Slezkine und anderen vor allem in Bezug auf deutschsprachige Städte und die Sowjetunion untersucht worden. Gluck löst dieses Problem, indem sie den jüdischen Charakter Budapests kulturgeschichtlich breit definiert. „Jewish Budapest was a state of mind and not just an identifiable community.“ (S. 208) Die titelgebende Unsichtbarkeit ist also nicht die Unsichtbarkeit der Budapester jüdischen Gemeinde oder des Antisemitismus, sondern die Unsichtbarkeit einer liberalen urbanen Kultur, die in der bisherigen Literatur vernachlässigt wurde. Es macht ein Budapest sichtbar, dass oftmals von Literatur zur Großen Synagoge oder zu Judapest-Diskursen überdeckt wird.

Gluck stützt sich vor allem auf eine breite Basis ungarischer Pressequellen. Sie bezieht sich allerdings nicht auf deutschsprachige Primärquellen, obwohl besonders am Anfang ihres Untersuchungszeitraums noch viele Budapester Juden auf Deutsch kommunizierten und publizierten (eine Illustration zu Mór Wahrmanns Begräbnis im Jahr 1892 aus dem deutschsprachigen Politischen Volksblatt ist auf S. 76 reproduziert, wird aber nicht weiter kommentiert). So war „the characteristic Juden-Deutsch of everyday life“ auch die Hauptsprache des Budapester Varietés (S. 155). Die Frage nach der Rolle des Deutschen in der jüdischen Moderne Budapests verdient weiterführende Bearbeitung.  Nichtsdestotrotz ist Glucks Buch eine bemerkenswerte Alltags- und Befindlichkeitsgeschichte zu Budapest um die Jahrhundertwende, einer Stadt, die in der englisch- und deutschsprachigen Literatur im Vergleich zu Wien, Prag und Berlin bisher noch wenig Aufmerksamkeit gefunden hat.

Felix Jeschke, Prag

Zitierweise: Felix Jeschke über: Mary Gluck: The Invisible Jewish Budapest. Metropolitan Culture at the Fin de Siécle. Madison, WI: University of Wisconsin Press, 2016. XIII, 251 S., 40 Abb. = George L. Mosse Series in Modern European Cultural and Intellectual History. ISBN: 978-0-299-30770-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Jeschke_Gluck_The_Invisible_Jewish_Budapest.html (Datum des Seitenbesuchs)

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