John Czaplicka (Hrsg.) Lviv. A City in the Crosscurrents of Culture. Harvard University Press for the Harvard Ukrainian Research Institute Cambridge, Mass. 2005. 362 S., 44 Abb.

Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die 1999 gemeinsam vom Minda de Gunzburg Center for European Studies und dem Ukrainian Research Institute in Harvard organisiert und durch einige weitere Beiträge ergänzt wurde. Insgesamt liegen somit 13 Artikel aus amerikanischer, polnischer, ukrainischer, schwedischer und deutscher Feder vor. Sie wid­men sich der Geschichte und Kultur Lembergs (ukr.: L’viv, poln.: Lwów), welche in den letzten Jahren geradezu ein Lieblingsthema der sich mit Ostmitteleuropa befassenden Forschung geworden ist. Das Faszinosum dieser Stadt liegt nicht nur in ihrer reizvollen Architektur begründet. Auch ihre lange multinationale und multikulturelle Vergangenheit, welche im wesentlichen durch das Aufeinandertreffen von Latinizität und Orthodoxie, von polnischen, ostslavischen (ukrainischen und russischen), deutschen, jüdischen und armenischen – um nur die wichtigsten zu nennen – Menschen bestimmt und geprägt war, macht sie zu einem lohnenden Forschungsgebiet. Der Untertitel dieses Bandes, „A City in the Crosscurrents of Culture“ ist somit treffend gewählt. Zeitlich, so zeigt sich bei genauerem Hinsehen, wurde der Schwerpunkt auf die Neuzeit gelegt, wobei einige Beiträge sich daran versuchen, die komplexe Geschichte der Stadt in einen größeren zeitlichen Kontext zu setzen, was mal mehr, mal weniger gelingt. Der Beitrag von Yaroslav Hritsak „Lviv. A Multicultural History through the Centuries“ hat hierbei einführenden Charakter. Er macht so­gleich auf ein grundlegendes Problem der historiographischen Arbeiten über diese ja gerade im 20. Jahrhundert so heftig umkämpfte Stadt aufmerksam, welche sowohl von Polen als auch von Ukrainern als nationaler Besitzstand bean­sprucht wurde: „The history of Lviv may be told in many different ways, and indeed historians of assorted nationalities have written distinct historical accounts of the city according to their respective national perspectives.“ (S. 47) Die ‚eine‘, gültige Geschichte dieser Stadt zu schrei­ben, erschien somit lange als ein fast aussichtsloses Unterfangen. Trotz der nunmehrigen man möchte fast meinen transnationalen Wende in der Geschichtswissenschaft wird es aber noch lange dauern, bis die Geschichte Lembergs nicht mehr vorrangig als Konfliktgeschichte gelesen wird.

Trotz des eindeutigen Schwerpunkts auf dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts reichen einige Beiträge bis in die jün­gere Vergangenheit; zu nennen sind hier Pad­raic Kenneys u.a. auf Interviews basierende Erörterung zu „Lviv’s Central European Renaissance, 1987–1990“, sowie George G. Grabowiczs „Mythologizing Lviv/Lwów: Echos of Presence and Absence“. Grabowicz ist einer der wichtigsten zur ukrainischen Literatur arbeitenden Philologen. In einem knappen Überblick über die Bedeutung Lembergs als literarischer Topos seit dem 19. Jahrhundert vergleicht er diesen in seiner Vielgestaltigkeit mit Jerusalem, welches ebenfalls als ein auch literarisches Palimpsest zu gelten hat. Er thematisiert auch den sog. Bu-Ba-Bu-Kreis um den mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum bekannten, weil ins Deutsche übersetzten, ukrainischen Schriftsteller Jurij Andruchovyč. Das Bild der Stadt in der älteren Literatur, genau genommen vom 16. Jahr­hundert bis zum Ende der Habsburgermon­archie, ist das Thema des Beitrags des Passauer Slavisten Alois Woldan. Er kann herausarbeiten, dass die Heterogenität der Stadt, welche im frühneuzeitlichen Kontext noch im Wesentlichen in Bezug auf die Religion wahrgenommen wurde, schon in dieser Zeit ein literarischer Topos war. Damit – und dies ist besonders herauszuheben – fand auch der Antisemitismus früh Eingang in literarische Verarbeitungen des Stadt­themas.

Das nicht zuletzt von der Schönen Literatur so häufig beschriebene habsburgische Lemberg war und ist auch ein Schwerpunkt der historischen Galizien-Forschung. Die von vielen als ungleich prosaischer empfundene sowjetische Zeit ist von der Historiographie hingegen bislang eher vernachlässigt worden. Es ist deshalb zu begrüßen, dass sich im vorliegenden Band gleich zwei Autoren dieses Desiderats annehmen: Mit umfangreichem statistischen Material und innersowjetischen Vergleichen arbeitet Mar­tin Åberg in seinem Beitrag „Paradox of Change. Soviet Modernization and Ethno-Linguistic Differentiation in Lviv 1945–1989“. Von großem Informationswert ist Bohdan Tscherkes„Stalinist Visions for the Urban Transformations of L’viv 1939–1955“. Er zeigt, dass die soziale und ökonomische Transformation Lembergs zu einer – von der Forschung in den letzten Jahren eingehend als Idealtypus untersuchten – sog. Sozialistischen Stadt im Sinne der stalinistischen Planungen als erfolgreich gel­ten kann. Zum Glück, so möchte man sagen, gelang die gleichsam geplante architektonische Umgestaltung, welche eine weitläufige Zerstörung historischer Ensembles erfordert hätte, aber nur in Ansätzen. Tscherkes macht dafür den frü­hen Tod Stalins verantwortlich. Mit der Architekturgeschichte befassen sich einige weitere Beiträge; zu nennen sind u.a. Ihor Zhuks „The Architecture of Lviv from the Thirteenth to the Twentieth Century“ und Jacek Purchlas „Patterns of Influence. Lviv and Vienna in the Mirror of Architecture“.

Für die Geschichte der Stadt Lemberg ist die religiöse Dimension außerordentlich wichtig. Insbesondere die Tatsache, dass die Förderung des griechisch-katholischen Ritus in Galizien durch die Habsburger einen wesentlichen Anteil am ukrainischen nation-building hatte, das sich auch in der Auseinandersetzung und Abgrenzung mit polnischer Latinizität entwickelte, lässt die Dimension erahnen. Einen zuweilen etwas hastigen Überblick mit einer deutlichen (überdeutlichen?) Betonung des Anteils hoher römisch-katholischer Würdenträger an der Verschärfung des polnisch-ukrainischen Antagonismus findet sich bei Liliana Hentosh in ihrem Beitrag „Rites and Religion. Pages from the History on Inter-denominational and Inter-ethnic Relations in Twentieth-Century Lviv“. Sie beschränkt sich auf die drei größten in Lemberg seinerzeit vertretenen christlichen Bekennt­nisse, d.h. neben der römisch-katholischen und der griechisch-katholischen auf die armenisch-katholische Kirche, die gegen Ende des 17. Jahr­hun­derts eine Union mit Rom eingegangen war. Die schon allein numerisch bedeutende Anzahl jüdischer Bewohner der Stadt muss somit in die­sem Beitrag ausgeklammert werden. Dieses Aspekts nimmt sich Wacław Wierzbieniec in sei­nem Artikel „The Process of Jewish Emancipation and Assimilation in the Multiethnic City of Lviv during the Nineteenth and Twentieth Centuries“ an. Er kommt zu dem Ergebnis, dass bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein die Akkulturation der Lemberger Juden an das Polentum nur langsam vorangeschritten war und die vollständige Polonisierung nicht zu­letzt durch den massiven Antisemitismus vieler Polen keinen Abschluss im großen Stil fand. Dennoch ist auch für diese Gruppe festzustellen, dass die mit der Wende zum 20. Jahrhundert auch in Lemberg virulenten zionistischen Debatten im Wesentlichen in polnischer Sprache geführt wurden.

Trotz einiger gelungener Beiträge, welche den beziehungsgeschichtlichen Aspekt etwa auf den Gebieten der Architektur, Religion und Literatur herausarbeiten, bleibt die Motivation für die Herausgabe dieses ansprechend gestalteten Sammelbands ein wenig rätselhaft: Eine erste Version wurde nämlich bereits im Jahr 2000 in den „Harvard Ukrainian Studies“ (Bd. 24) veröffentlicht und damit an einem gut zugänglichen Ort.

Kerstin S. Jobst, Potsdam/Salzburg

Zitierweise: Kerstin Jobst über: John Czaplicka (Hrsg.) Lviv. A City in the Crosscurrents of Culture. Harvard University Press for the Harvard Ukrainian Research Institute Cambridge, Mass. 2005. 362 S., 44 Abb. ISBN: 0-9164-5897-0, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Jobst_Czaplicka_Lviv.html (Datum des Seitenbesuchs)