Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 61 (2013), 1, S. 133-136
Verfasst von: Kerstin Jobst
Guido Hausmann: Mütterchen Wolga. Ein Fluss als Erinnerungsort vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M., New York: Campus, 2009. 494 S., 11 Abb. = Campus Historische Studien, 50. ISBN: 978-3-593-38876-2.
Die Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten vermehrt den Themen der Wahrnehmung von Natur und Landschaft und ihrer Bedeutung für die Ausformung kollektiver Identitäten zugewandt. Gerade Flüsse spielen dabei eine Rolle, werden sie doch nicht mehr allein als Wirtschafts- oder Kommunikationswege verstanden und untersucht, sondern zunehmend auch unter kulturwissenschaftlichen Prämissen betrachtet. So entstanden einige sog. Fluss-Biographien, von denen die des italienischen Literaturwissenschaftlers Claudio Magris über die Donau ( Claudio Magris Die Donau. Biografie eines Flusses. München, Wien 1986) im deutschsprachigen Raum die am meisten rezipierte ist. Dieses Buch ist beileibe nicht ‚nur‘ ein wissenschaftliches Werk; grandios geschrieben, überschreitet es deutlich die Grenze zur Literatur. Deshalb vermochte es über die Fachwissenschaft hinaus eine breite Leserschaft anzusprechen. An dieses Werk mag man spontan denken, wenn man Guido Hausmanns Buch über die Wolga als Erinnerungsort zur Hand nimmt, und sich wünschen, dass der Osteuropahistoriker Ähnliches vorhabe wie seinerzeit Magris. Auch die Wolga selbst löst, wohl nicht allein bei der Rezensentin, eine weitere Assoziation aus: Viele ehemalige Studierende der Osteuropäischen Geschichte oder Slavistik haben vermutlich im Laufe ihrer Ausbildung irgendwann einmal den Film „Wolga – Wolga“ gesehen oder zumindest von diesem gehört. Die 1938 von Grigorij Aleksandrov gedrehte Komödie spielt zum großen Teil auf einem Wolga-Dampfer. Sie war in der UdSSR ein großer Publikumserfolg, dessen Musik heute noch vielen ehemaligen Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürgern vertraut ist. Vor allen Dingen aber galt „Wolga – Wolga“ als Stalins Lieblingsfilm.
Hausmann hat sich mit seiner „Mütterchen Wolga“ jedoch Anderes vorgenommen: Er legt keine literarisch inspirierte Wolga-Biographie vor. Das liegt zum einen daran, dass dieser Fluss (anders als die Donau) vergleichsweise wenige belletristische Werke beeinflusst hat. Zum anderen ist sein Buch eine überarbeitete Version einer 2005 in Bielefeld vorgelegten Habilitationsschrift, welche somit schon in der Diktion ganz anders – ungleich trockener – angelegt sein muss als Magris’ „Donau“. Außerdem hat Hausmann einen anderen Zeitrahmen gewählt, als dass Aleksandrovs Film hätte vorkommen müssen: Der Verfasser betrachtet mit der Periode zwischen dem 16. und dem beginnenden 20. Jahrhundert eine sehr lange Spanne und spart aus nachvollziehbaren arbeitsökonomischen Gründen die nachrevolutionäre Phase aus. Ein Ausblick in die sowjetische Zeit kann nicht verlangt werden, auch wenn es spannend gewesen wäre, etwaige Kontinuitäten über die weltpolitische Zäsur des Jahres 1917 hinaus zu erforschen. Methodisch will der Verfasser sich vor allen Dingen an den Arbeiten Aleida und Jan Assmanns und Maurice Halbwachs’ über die Entstehung kollektiver Gedächtnisse orientieren. Eine weitere, schon im Untertitel formulierte Referenz, sind Pierre Noras „Lieux de mémoires“; dies sind mithin Theorien, welche inzwischen eine große Rolle in den historischen Wissenschaften spielen. Am Beispiel des mit über 3500 Kilometern längsten russischen Flusses fragt Hausmann nach der Genesis eines „komplexen Erinnerungsortes“, dessen „symbolischen Bedeutungen“ und der Funktion in „populären Geschichtsbildern“ (S. 13). Er geht von der Grundannahme aus, dass sich persistente Wolga-Vorstellungen im Wesentlichen im 19. und 20. Jahrhundert formten und sog. Masternarrationen entstanden. Um diese zentrale These zu stützen, fragt er in insgesamt acht Kapiteln (inklusive Einleitung und Zusammenfassung) nach vorhandenem und zugänglichem Wissen über diesen Fluss und danach, wie sich dieses Repertoire über die Zeit verändert hat. Der Verfasser geht also, sicher zu recht, von der großen kulturellen Bedeutung der Wolga für Russland und seine (nicht nur russische) Bevölkerung aus. Ihm ist zugleich bewusst, und abermals ist ihm hier zuzustimmen, dass sich ihre Bedeutung „auch mit einer Tabelle über die Entwicklung des Gütertransportes auf den Wolga-Schiffen belegen“ ließe (S. 17). Damit kommt er schon einleitend auf die große ökonomische Relevanz dieses Flusses zu sprechen, welche er im Verlauf seiner Darstellung übrigens nicht aus den Augen verliert. Gleichwohl kündigt Hausmann eine ganz überwiegend kulturgeschichtliche Betrachtung an, welche er allein in einem Kapitel – dem über die Wolga-Treidler – durch einen eher sozialgeschichtlichen Zugang aufgeben will. Insgesamt, dies sei einleitend festgestellt, ist das vorliegende Werk über weite Strecken keine Geschichte der Genese eines Erinnerungsortes, sondern durchaus Realgeschichte. Dies ist keineswegs ein Nachtteil, durch den Untertitel werden aber andere Erwartungen erweckt.
Hausmann arbeitet sich im Wesentlichen chronologisch, nicht thematisch an seinem Thema ab. Ein nicht-chronologischer Aufbau hätte sich ebenfalls angeboten, wären doch so die Veränderungen im Bestand einzelner Wissensfelder über die Zeitläufte hinweg zu beobachten gewesen. Das Buch setzt mit dem vorrussischen, quellenmäßig greifbaren Wolga-Wissen ein, nämlich mit dem 15./16. Jahrhundert und dem an der Wolga angesiedelten turksprachigen Heldenepos Idegej, welches den Niedergang der Goldenen Horde zum Inhalt hat. In diesem Kapitel („Die Wolga als Idil’: Der Erinnerungsort der Türkvölker an der mittleren und unteren Wolga“) kommt zum Tragen, dass der Fluss in seinem ganzen Verlauf keinesfalls im Kerngebiet des ursprünglichen russisch/ostslavischen Siedlungsgebietes lag. Vielmehr wurde die Wolga-Region erst im Lauf der Zeit vom Moskauer Reich vollständig erobert und allmählich russisch besiedelt. Damit wird auch das imperiale/koloniale Moment in der Wolga-Geschichte angedeutet, welches aber im Verlauf der Darstellung kaum noch eine Rolle spielt. Hausmann kommt zu dem Ergebnis, dass die (nomadischen) Nogaier den Idil’ als trennendes und verbindendes Element wahrnahmen und er ihnen zugleich Heimat war. Im nächsten Kapitel wird die „Wolga als Jordan. Der orthodoxe Erinnerungsort“ beschrieben. Dabei wird auf die seit dem 17. Jahrhundert im oberen Flussverlauf entstehenden Klöster Bezug genommen sowie auf die Wallfahrten orthodoxer Gläubiger u. a. zur Tolgsker Muttergottesikone. Dieser, so belegen die von Hausmann ausgewerteten Wunderberichte, wurden zahlreiche Mirakel zugesprochen. Die zeitgenössische Wahrnehmung unterschied überdies zwischen einem orthodoxen und einem „fremden“ bzw. nichtslavischen Flussabschnitt.
Die „Wolga als imperialer Fluss“ ist sicher eines der zentralen Kapitel dieses Buches. Es befasst sich eingangs ausführlich – und keinesfalls kulturgeschichtlich – u. a. mit der Kartografierung des Flusses oder den zahlreichen (und größtenteils nicht umgesetzten) ambitionierten infrastrukturellen Projekten wie Kanalbauten seit der Herrschaft Peters I. Der Tradition der Herrscherflussreisen ist ein eigener Abschnitt gewidmet, welcher erwartungsgemäß die Wolga-Fahrt Katharinas II. 1767 beschreibt. Diese Reise wird als bewusste Inszenierung, als Pilgerfahrt der Zarin durch ihr Imperium gedeutet: Der Fluss wurde dabei zu einem Repräsentationsraum aufgeklärter Herrschaft. In einem nächsten Schritt wendet sich Hausmann Wolga-Beschreibungen aus der Feder westeuropäischer Autoren wie Olearius oder Herberstein zu. Er zeigt, dass der Fluss durchaus von der gedachten „europäischen Gelehrtenrepublik“ wahrgenommen wurde. Ebenfalls außerhalb Russlands thematisiert und von Hausmann in einem weiteren Kapitel ausführlich beschrieben werden die Wolga-Treidler (russ. burlaki). Der Verfasser hat in der Einleitung angekündigt, diesen Abschnitt primär sozialhistorisch und weniger kulturgeschichtlich anzulegen. Gleichwohl muss er sich auch mit den Elementen auseinandersetzen, welche wohl am nachhaltigsten das Bild dieser im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch die Einführung von Dampfschiffen allmählich marginalisierten Gruppe geprägt haben: Ilja Repins Gemälde „Die Wolgatreidler“, das in den Jahren 1872/73 entstanden ist, sowie den zahlreichen, in das russische Liedgut eingegangenen Liedern der Burlaki, welche Hausmann zumindest auf einigen wenigen Seiten problematisiert. Hier erstaunt zweierlei: zum einen die sicher dem Verlag anzulastende, unglaublich schlechte Reproduktion des berühmten Repin-Bildes. Dies ist besonders bedauerlich, ist dieses so häufig reproduzierte Artefakt doch wie kein anderes geeignet, das von Hausmann gewählte Thema des vielschichtigen Wolga-Diskurses zu verdichten. Überhaupt scheint sich der Verlag nicht zu einer angemessenen Bebilderung des Gegenstandes hat durchringen können: Sogar vom Verfasser angesprochene wirkungsmächtige Photographien wie die von M. P. Dmitriev (S. 378) fanden keinen Eingang in das Buch. Schmerzlich vermisst wird vor allen Dingen eine aussagekräftige Karte der Wolga selbst, welche die Orientierung erleichtern würde, zumal die wenigen abgebildeten zeitgenössischen Skizzen diesen Mangel nicht ausgleichen können. Zum anderen überrascht das Fehlen des wohl populärsten Treidlerliedes „Ėj, uchnem!“ Dieses erfreut(e) sich auch außerhalb Russlands großer Popularität, wurde es doch u. a. durch die Interpretationen des Opernsängers Fëdor I. Šaljapin und Glenn Millers (!) bekannt; die Variante des Letzteren schaffte es 1941 sogar an die Spitze der US-Charts. Obwohl Hausmann den Quellenwert der Treidlerlieder, aus denen er übrigens dennoch ausführlich und überwiegend nur in Russisch ohne Übersetzung zitiert, für begrenzt hält (S. 307), kommt er doch in diesem Unterkapitel zu bedenkenswerten Hypothesen: Die bei der Arbeit auch zur Koordinierung der Arbeitsabläufe gesungenen Lieder offenbaren eine spezifische Naturwahrnehmung der Treidler, weisen kaum religiöse Bezüge auf und weckten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt deshalb zunehmend das Interesse „linker“ oppositioneller Kreise. Diese waren bekanntlich an der sog. sozialen Frage interessiert und funktionalisierten die Gesänge dieser sozialen Gruppe für ihre eigenen politischen Zwecke, indem sie ihre Inhalte umdichteten (S. 317).
Das daran anschließende Kapitel über Stepan Razin und die „Wolga als Fluss der Freiheit“ knüpft an den Themenkomplex der Wolga als Chiffre für Widerstand/Opposition an: Hausmann setzt in diesem Kapitel wohl am konsequentesten die methodischen Prämissen der Erinnerungsforschung um, indem er die Wandlung des Ortes von dem der „Rebellion“ zu dem der „Freiheit“ anschaulich macht und hier zudem unterschiedliche Diskursgruppen identifizieren kann: Während Razin und die Seinen für Oberschichtenangehörige zumeist „Banditen“ oder Verbrecher darstellten, waren sie für untere soziale Schichten und oppositionelle Kreise positiv besetzt. Im letzten inhaltlichen Kapitel „Im Zeitalter der Dampfschifffahrt. Wolgafahrten als Fahrten in die eigene Kultur und Geschichte“ geht es um die Modifizierungen des Wolga-Diskurses unter den Prämissen der Modernisierung durch die Einführung der Dampfschiffe und des damit geförderten Wolga-Tourismus. Orte an der nationalen Peripherie zu bereisen und diese Orte und ihre Anwohner dadurch kennenzulernen – dies förderte ohne Zweifel komplexe Aneignungsprozesse von Landschaften als national auch im Fall der Wolga. Als Vorbild, so zeigt Hausmann u. a. durch die Auswertung von Reiseführern, diente vor allen Dingen der Rhein. Wie dieser, und einer gesamteuropäischen Tendenz folgend, so möchte man hinzufügen, wurde der Strom zunehmend nationalisiert, als russisch wahrgenommen. Dabei bedurfte es keines konkreten singulären Ereignisses; gerade im Fall der Wolga handelte es sich um einen Prozess, welcher einer russischen (Oberschichts-)Bevölkerung zugleich die Errungenschaften der russischen Zivilisation vorführte. Die Ebenbürtigkeit russischer Natur und Aufbaukraft wurde, so Hausmann, durch den Abgleich mit anderen, nichtrussischen Flüssen (wie dem Mississippi, dem Amazonas oder eben dem Rhein) demonstriert. Der Verfasser bezeichnet diesen Vorgang als Erinnerungskonkurrenz.
Auf der Grundlage eines beeindruckenden Korpus gedruckter und unveröffentlichter Quellen hat Hausmann auf gut vierhundert Seiten wesentliche Elemente (Religiöses und Säkulares, Ober- und Unterschichten-Einschreibungen, Rebellion vs. Freiheit etc.) des Wolga-Wissens zwischen dem 16. Jahrhundert bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zusammengetragen, um die Entstehung dieses Flusses als eines komplexen russischen Erinnerungsortes zu demonstrieren. Vor diesem Hintergrund verblüfft es sehr, auf der vorletzten Seite (S. 435) dann zu lesen, dass „es kaum möglich [ist], die Wolga als kulturelles Gedächtnis Russlands anzusehen“. Es gebe vielmehr „eine Vielzahl kollektiver Erinnerungen“ und „ganz unterschiedliche Wissensordnungen“ nebeneinander. Nachdem der Verfasser, in guter Kenntnis der einschlägigen Schriften über Erinnerungskulturen methodisch gerüstet, über mehrere hundert Seiten die teils korrespondierenden, teil konkurrierenden Schichten des Wolga-Wissens und seines Wandels ausgebreitet hat, ist diesem Urteil kaum zuzustimmen. Vielmehr ist zu betonen, dass widersprüchliche und nebeneinander stehende Einschreibungen unterschiedlicher Diskursgruppen eher die Regel denn die Ausnahme bei der Entstehung von Erinnerungsorten sind. Nicht zuletzt in diesem Sinn ist das von Hausmann wiederholt benutzte Substantiv der Erinnerungskonkurrenz zu verstehen. Ein Blick auf bereits untersuchte andere kollektive Erinnerungsorte innerhalb des Russländischen Reiches (sei es z. B. die Halbinsel Krim, Sibirien oder St. Petersburg) unterstützt die Aussage über solche Parallelitäten; diese anderen Orte werden aber von Hausmann kaum in seiner Argumentation berücksichtigt; dies trifft übrigens dezidiert nicht auf außerrussische Bezüge zu, vergleicht Hausmann die Wolga-Einschreibungen doch wiederholt und plausibel mit denen anderer Flüsse wie eben dem Rhein oder dem Jordan. Welche Relevanz der Wolga als Erinnerungsort innerhalb einer russländischen mentalen Kartographie zukommt, kann somit nicht abschließend beurteilt werden. Darf aus der von Hausmann gezogenen Quintessenz vielleicht geschlossen werden, dass die Wolga in einer gedachten Hierarchie emotional besetzter Erinnerungsorte im russischen Raum einen hinteren Platz einnimmt? Dieses allerdings würde der eingangs von Hausmann aufgestellten These widersprechen, nach der die Besonderheit der Wolga nicht zuletzt darin lag, „unterschiedliche Bedeutungen und Erinnerungsgemeinschaften zu integrieren.“
Zitierweise: Kerstin Jobst über: Guido Hausmann: Mütterchen Wolga. Ein Fluss als Erinnerungsort vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2009. 494 S., 11 Abb. = Campus Historische Studien, 50. ISBN: 978-3-593-38876-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Jobst_Hausmann_Muetterchen_Wolga.html (Datum des Seitenbesuchs)
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