Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 66 (2018), 1, S. 165-167

Verfasst von: Peter Kaiser

 

Aleksandr B. Astašov: Russkij front v 1914 – načale 1917 g. Voennyj opyt i sovremennost’. Moskva: Novyj chronograf, 2014. 737 S., Abb. ISBN: 978-5-94881-182-6.

Das 100. Jubiläum des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges wurde von der Geschichtswissenschaft mit einer Vielzahl an Publikationen gewürdigt, die verschiedenste Aspekte dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) beleuchten und dabei dem Leser die Ereignisse des von den Zeitgenossen ehrfürchtig so genannten „Gro­ßen Krieges“ wieder in Erinnerung rufen sollten. Vor allem im heutigen Russland erlebt die Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg seit fast einem Jahrzehnt eine nie dagewesene Renaissance, was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet ist, dass von der sowjetischen Historiographie gerade dieser Weltkrieg lange vernachlässigt wurde. A priori als „imperialistisch“ gebrandmarkt, zog man den Ersten Weltkrieg immer dann als Negativfolie heran, wenn es darum ging, die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ als „Befreiung von der Geißel des Krieges“ darzustellen, wobei die zarische Militärelite – mit wenigen Ausnahmen – als soldatenfeindlich und ‚rückwärtsgewandt‘ porträtiert wurde. Die neueren russischen Darstellungen wirken diesem genuin negativen Bild entgegen und zeigen den Ersten Weltkrieg als komplexes Ereignis auf, wo Patriotismus und der Glaube an die Gerechtigkeit der eigenen Sache erst in der Schlussphase von Apathie, Ablehnung und Defätismus abgelöst wurden.

Das Buch des russischen Historikers Aleksandr Astašov über die Kriegserfahrungen an der russischen Front zwischen August 1914 und Februar 1917 ist nicht so sehr der Schilderung von großen Schlachten, strategischen Schachzügen und Lagebesprechungen von Generälen gewidmet, sondern im Mittelpunkt des Interesses stehen hier die individuell-psychologischen Auswirkungen des Krieges auf die beteiligten Soldaten und Offiziere der russischen Streitkräfte. Gerade in der Untersuchung von Mentalitäten und Verhaltensmustern der Kombattanten, in der Erforschung ihrer komplexen Gefühlswelt sieht der Autor einen Weg, um die Ereignisse des Jahres 1917 und des anschließenden Bürgerkrieges in ihrer vollen Tragweite zu verstehen. Völlig zu Recht unterstreicht Astašov die enorme psychologische Auswirkung der an der Front erfolgten Brutalisierung der Soldaten auf deren Verhalten nach dem Sturz der Autokratie sowie bereits in deren Vorfeld, wobei er nicht vergisst, auf die tiefer liegenden Mechanismen der sozialen Destruktion hinzuweisen, die den Gegensatz zwischen einfachen Soldaten und der Obrigkeit noch breiter werden ließ. An sich sind zwar sowohl die vom Autor angewandte Methodik als auch die auf ihrer Grundlage gezogenen Schlussfolgerungen nicht neu und in der westlichen Forschungsliteratur spätestens seit der Hinwendung der Geisteswissenschaften zur Kultursoziologie und Alltagsgeschichte in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bekannt. In dieser Hinsicht gelingt dem Autor kein großer Wurf. Was die Arbeit von Astašov aber wirklich interessant macht, ist die enorme Anzahl an primären Quellen, die er in jahrelanger Kleinarbeit in mehreren russischen Archiven gesammelt hat, von denen vor allem die Soldatenbriefe von enormem Interesse sind. Sie vermögen das Bild des russischen Kombattanten jenseits aller Ideologien zu zeichnen, das facettenreicher und gleichzeitig widersprüchlicher ist als vielfach bisher bekannt.

Einerseits trifft man auf viele Zeugnisse des Hasses auf den Feind, den man als „brutal“, „listig“ und „ungerecht“ empfand. Vor allem die Reichsdeutschen erscheinen in den Soldatenbriefen als „Wölfe“ und „Unchristen“, die mit barbarischen Methoden Krieg führen und die sogar in Gefangenschaft „mit bösen Blicken“ ihre „unbeugsame Wut“ demonstrieren würden. Im Gegensatz z.B. zu den österreichischen Soldaten, denen gegenüber viele Russen leicht verächtliche Arroganz empfanden, und den Osmanen, die man als einen „altbekannten Feind“ charakterisierte, gegen den man seit Jahrhunderten erfolgreich Kriege geführt hatte, waren die Deutschen in den Augen russischer Kombattanten von vornherein „starrköpfig“ und „renitent“; ihre technische Überlegenheit und Schlagkraft bewunderte man gleichzeitig insgeheim. „Die verdammten Deutschen kämpfen mit Standhaftigkeit. Sogar verwundet geben die nicht auf. Wir sind gezwungen, uns den Weg mit Bajonetten und Granaten zu bahnen. Es ist einfach ein ununterbrochener Horror!“, heißt es in einem Soldatenbrief aus dem Oktober 1916. Und in einem anderen: „Wir sind sehr böse auf die Deutschen. Unsere Jungs nehmen die gar nicht gefangen, sondern stechen sie an Ort und Stelle ab, weil sie sehr starrköpfig sind und sogar dann noch feuern, wenn sie sehen, dass es gar kein Entkommen gibt“.

Andererseits sieht man auch ungeschminkt die schweren psychischen Traumata, die neben den physischen Verwundungen die russischen Soldaten quälten. Der Selbstmord erschien vielen Soldaten (und zum Teil sogar Unteroffizieren) als einziger Ausweg aus der Situation, während gleichzeitig zahlreiche Fälle von Selbstverstümmelung und Desertion das Militärkommando zu drakonischen Gegenmaßnahmen veranlassten, die nur begrenzten Erfolg hatten und die Stimmung der Soldaten noch negativer werden ließen. Depressionen, Ängste und emotionale Erschöpfung prägen den Stil von Dutzenden von Briefen, die Astašov zitiert, wobei man niemals den Eindruck hat, die Zitate seien unverbunden aneinandergereiht. Ganz im Gegenteil: Eine der Stärken der Arbeit besteht gerade in der konsequenten analytischen Ausschöpfung des illustrativen Potenzials dieser Primärquellen, die, mit offiziellen Statistiken und Berichten verknüpft, zu einer ganzheitlichen Erzählung vom Frontalltag werden.

Dagegen kann man den Ausführungen des Autors dort nicht zustimmen, wo er versucht, die Figur eines „Bürger-Soldaten“ zu konstruieren. Vereinzelte Hinweise auf die Sorge der Soldaten um den Bestand des eigenen Hofes und das Wohlergehen der eigenen Familie berechtigen noch lange nicht, daraus eine „bürgerlich-gesamtstaatliche“ Gesinnung der russischen Soldaten abzuleiten, für die in dem bis zuletzt autokratisch regierten und auf strikten Hierarchien aufbauenden zarischen Staat bei den unteren Bevölkerungsschichten viele Voraussetzungen fehlten. Die Frontunruhen Anfang 1917 wurden nicht etwa durch eine Sorge um den Bestand der Duma oder gar durch bewusstes Eintreten für demokratische Strukturen hervorgerufen, sondern waren unmittelbare Folge der schweren Niederlagen und der Kriegsmüdigkeit. Dass dem Autor, der selbst vielfach überzeugende Beweise für diese Stimmungen vorgelegt hat, dieser Widerspruch nicht aufgefallen zu sein scheint, verwundert den Leser ebenso wie der weitgehende Verzicht auf die Darstellung von komplexen Interaktionen zwischen linksliberalen und linken Akteuren im Hinterland einerseits und den Kriegsteilnehmern andererseits sowie von deren Wirkung auf die Stimmung in der Truppe, wo man sich immer öfter von „deutschen Spionen“ verraten fühlte, die man in der unmittelbaren Umgebung des Zaren (Stichwort Rasputin) und im Generalstab vermutete.

Insgesamt hinterlässt die Arbeit jedoch einen sehr überzeugenden Eindruck. Die Faktendichte der Darstellung sowie die Tatsache, dass der Autor die Stimme des ‚einfachen Mannes‘ mit der gesamten Palette der Emotionen der Kombattanten am Vorabend der Revolution vernehmbar werden lässt, macht das Buch zu einem wichtigen Beitrag für die Erforschung der Rolle des Ersten Weltkriegs in der russländischen Geschichte.

Peter Kaiser, Freiburg i.Br.

Zitierweise: Peter Kaiser über: Aleksandr B. Astašov: Russkij front v 1914 – načale 1917 g. Voennyj opyt i sovremennost’. Moskva: Novyj chronograf, 2014. 737 S., Abb. ISBN: 978-5-94881-182-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kaiser_Astasov_Russkij_front.html (Datum des Seitenbesuchs)

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