Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 519-521

Verfasst von: Karl Kaser

 

Armina Omerika: Islam in Bosnien-Herzegowina und die Netzwerke der Jungmuslime (1918–1991). Wiesbaden: Harrassowitz, 2014: XV, 362 S. = Balkanologische Veröffentlichungen, 54. ISBN: 978-3-447-06582-5.

Der Titel des kürzlich erschienenen Buchs – offensichtlich die für den Druck überarbeitete Dissertation der Verfasserin – deutet zwei auf das engste verwobene Erzählstränge an: jenen der Geschichte des Islams und jenen der Vernetzungsgeschichte der Jungmuslime in Bosnien-Herzegowina. Ersterer erstreckt sich von der Gründung des ersten jugoslawischen Staats bis zum Ende der Ära der liberalen Islam-Politik im zweiten Jugoslawien, die sich ab den 1960er Jahren aufgrund der außenpolitischen, blockfreien Orientierung Jugoslawiens eingespielt hatte. Letzterer umfasst die vier Jahrzehnte währende Periode der jungmuslimischen Bewegung, die durch den Prozess gegen führende Mitglieder des geheimen Netzwerks im Jahr 1983 abrupt beendet wurde. Zu den damals Verurteilten zählte Alija Izetbegović, der dann sieben Jahre später erster Präsident der Republik Bosnien und Herzegowina werden sollte (1990–1995). Bei beiden Erzählsträngen handelt es sich grundsätzlich nicht um unbekannte Materien, die eine Dissertation lohnen würden. Der innovative Kern der Arbeit, nämlich die Rekonstruktion der Netzwerke der weitgehend illegal organisierten Jungmuslime, lässt sich allerdings ohne den Blick auf die gesamtstrukturellen islamischen Zusammenhänge nicht darstellen.

Frau Omerika geht es also im Kern um die Vernetzung der Jungmuslime, einer im März 1941 gegründeten Organisation, die, wie die Verfasserin vermutet, in der damaligen Jugendorganisation der ägyptischen Muslimbrüder ein nachzuahmendes Vorbild sah. Den Jungmuslimen ging es daher auch nicht darum, den zentralen säkularen Aspekt von Muslimen des Landes weiterzutreiben, nämlich die Nationsbildung, sondern im Gegenteil den Aspekt der Vertiefung des Glaubens programmatisch zu betonen. Wenn letztlich das säkulare, nationale Konzept des Bosniakentums in den frühen 1990er Jahren den Sieg davon getragen hat, so bedeutet dies nicht, dass die Jungmuslime eine unbedeutende Rolle in der Geschichte des bosnisch-herzegowinischen Islams gespielt hätten.

Für die Analyse der Netzwerke dieser Jungmuslime sucht die Autorin, wie sie in der Einleitung herausarbeitet, theoretische Orientierung bei den Netzwerkansätzen des deutschen Ethnologen Thomas Schweizer, bei den Soziologen Robert D. Putnam und Hartmut Esser sowie bei Gottseibeiuns Pierre Bourdieu, wobei diese theoretischen Orientierungen im Verlauf der Arbeit rasch ausdünnen; explizite Bezugnahmen sind im weiteren Verlauf der Arbeit kaum mehr anzutreffen. Dies zeigt sich auch daran, dass die analytischen Darstellungsanteile selten werden, die deskriptiven und empirischen hingegen stark zunehmen. Davon abgesehen gelingt es der Verfasserin, mikroskopisch nachzuzeichnen, dass sich das jungmuslimische Netzwerk auf der Basis von bereits bestehenden familialen, nachbarschaftlichen, freundschaftlichen und schulischen Beziehungen ausbilden und  ausweiten konnte; es handelte sich dabei beinahe ausschließlich um männliche Netzwerke. Diese Beziehungen gewährleisteten auch unter den Bedingungen der Illegalität ausreichend Garantien von Stabilität und Vertrauen. Um diese Netzwerke im Verlauf der vier Jahrzehnte rekonstruieren zu können, verwendet die Autorin, mit Vorsicht, wie sie betont, zahlreiche in den 1990er Jahren erschiene Selbstdarstellungen von Aktivisten, biografisches und autobiografisches Material sowie Korrespondenzen der Jungmuslime untereinander und persönliche Dokumente aus Familienarchiven. Zusätzliche Primärquellen bilden eigenständige Werke von Jungmuslimen, unveröffentlichte Texte sowie Interviews mit ehemaligen Jungmuslimen.  

Die Arbeit ist in sieben Kapitel unterschiedlicher Länge und Gewichtung gegliedert. Sie beginnt mit zwei Rahmenkapiteln: Das erste, Bosnische Muslime im ersten jugoslawischen Staat (1918–1941), enthält auch einen Prolog über die „kolonialistische“ österreichisch-ungarische Vorgeschichte, der mir in manchen Punkten revisionsbedürftig erscheint; es folgt ein kurzes Kapitel über den Islam im Zweiten Weltkrieg. Das erste Kernkapitel benennt die Verfasserin Jungmuslime 1941–1945: Netzwerk und Ideologie; in ihm beschäftigt sie sich sehr detailreich mit der Gründungsphase des Netzwerks, die sich in erster Linie im Rahmen des Unabhängigen Staats Kroatien abspielt. Es folgt wieder ein allgemeineres Kapitel, Der Islam in den ersten Jahren des Tito-Staats (1945–1953), das sich einerseits mit der weiteren Degradierung des Islams (Schließung der religiösen Schulen und Scharia-Gerichte und Verbot der weiblichen Körperverschleierung) und andererseits mit der Neuausrichtung der islamischen Institutionen im Sinne der neuen Machthaber befasst. Daran schließt ein weiteres Kernkapitel an, das das jungmuslimische Netzwerk in den Jahren von 1945 bis 1949 thematisiert. Im Jahr 1949 wurden die ersten großen Gerichtsprozesse gegen die Jungmuslime inszeniert, deren Netzwerk sich gegenüber dem jugoslawischen Geheimdienst als nicht ausreichend professionell erwiesen hatte. Es folgt wieder ein allgemeines Kapitel über den Islam in Jugoslawien (Von der Repression zur Anerkennung (und zurück): Der Islam in Jugoslawien 1953–1983),  also bis zur zweiten, bereits erwähnten großen Welle an Gerichtsprozessen gegen eine Gruppe von Jungmuslimen. In diese Phase fällt auch die von Jugoslawien aktiv betriebene Außenpolitik der Blockfreiheit, die dem Islam in Bosnien-Herzegowina in kultureller Hinsicht, nicht jedoch den Jungmuslimen, eine Phase der Liberalisierung bescherte. Dieser Problematik ist das letzte Kapitel, Reaktivierung des jungmuslimischen Netzwerks (1960–1983), gewidmet. Die Autorin zeichnet darin ein zwiespältiges Bild des Netzwerks. In diese Phase fällt die „Islamische Deklaration“ von Alija Izetbegović – ein Kerndokument des jungmuslimischen Netzwerks, das eine „islamische Wiedergeburt“ und die Etablierung einer islamischen Ordnung – allerdings nicht in politischer, sondern in moralischer Hinsicht – anstrebte. Dazu passten neu etablierte Kontakte zu den Muslimbrüdern in der arabischen Welt, die über Studenten aus diesen Ländern in Bosnien hergestellt werden konnten. Gleichzeitig jedoch blieb das Netzwerk klein, und seine Betreiber ließen auch kein Bestreben erkennen, es massiv auszuweiten.

Eine Bestandsaufnahme ergibt, dass vier Kapitel bzw. die Hälfte der Darstellung dem Erzählstrang „Islam in Bosnien-Herzegowina“ und drei Kapitel und die zweite Hälfte dem Erzählstrang „Netzwerke der Jungmuslime“ gewidmet sind. Die beiden Aspekte werden also gleichwertig abgehandelt; der Kern der Forschungsarbeit, das Netzwerk der Jungmuslime, vermag somit nicht im Umfang zu dominieren. Ich denke, dass dies auch der Natur des Themas geschuldet ist. Illegale und um Geheimhaltung bemühte Netzwerke zu rekonstruieren, stellt ein schwieriges und ambitiöses Unterfangen dar. Die Autorin konnte und musste sich dabei in nicht unerheblichem Ausmaß auf die „Vorrecherchen“ des jugoslawischen Geheimdienstes und der Gerichte in den Prozessen gegen  die Jungmuslime von 1949 und 1983 stützen.

Frau Omerika wollte mit ihrer Arbeit über innerislamische Debatten und Auseinandersetzungen, denen in der Forschung bislang noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, eine Forschungslücke schließen. Dies ist ihr zweifellos gelungen.

Karl Kaser, Graz

Zitierweise: Karl Kaser über: Armina Omerika: Islam in Bosnien-Herzegowina und die Netzwerke der Jungmuslime (1918–1991). Wiesbaden: Harrassowitz, 2014: XV, 362 S. = Balkanologische Veröffentlichungen, 54. ISBN: 978-3-447-06582-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kaser_Omerika_Islam_in_Bosnien-Herzegowina.html (Datum des Seitenbesuchs)

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