Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 65 (2017), H. 3, S. 490-493
Verfasst von: Agilolf Keßelring
Alexander Gogun: Stalins Kommandotruppen 1941–1944. Die ukrainischen Partisanenformationen. Stuttgart: Ibidem, 2015. 405 S., Abb., Tab. ISBN: 978-3-8382-0720-9.
Die Hauptthese Goguns, dass es sich bei den sowjetischen Partisanen des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine um aus Moskau gesteuerte Kommandotruppen (daher der Titel) statt um originäre Widerstandskämpfer (S. 351) gehandelt habe, ist provokativ und lässt aufhorchen. Der Klappentext der deutschen Übersetzung konstruiert zudem eine fragwürdige Aktualität dieses Themas, indem dort auf die heutige „hybride Kriegsführung“ von Putins Russland gegenüber der Ukraine verwiesen wird. Wie auch immer man zu Putins völkerrechtswidriger Annexion der Krim stehen mag, das heutige Russland ist nicht die Sowjetunion Stalins. Historiker sind gut beraten, historische Themen in ihrer Zeit zu lassen und nicht die heutige Zeit auf die Vergangenheit zu projizieren. Mit dieser wohl verkaufsfördernd gedachten Falschetikettierung hat der ibidem-Verlag dem Autoren einen Bärendienst erwiesen – der aufgeklärte Leser vermutet ein politisch einseitiges (antirussisches) Werk. Dies schadet der Akzeptanz der ohnehin brisanten Thesen des Autors.
Dabei handelt es sich bei Stalins Kommandotruppen um eine wichtige und handwerklich-historisch gekonnte Dissertationsschrift. Sie leistet eine historisch-kritische Dekonstruktion des sowjetischen Partisanenmythos – ein „heißes Thema“, dass keiner künstlichen politischen Aufblähung bedurft hätte. Einzelaspekte dieses Werks berühren zudem mehrere sehr ernste „große Themen“ der Erforschung des Zweiten Weltkrieges im Osten, dessen Komplexität in der deutschen Forschung leicht hinter dem germanozentrischen Diktum vom „Vernichtungskrieg“ zu verblassen scheint. Goguns Arbeit ist sachkundig und nah – manchmal fast zu nah – an den Quellen gearbeitet. Es stützt sich auf eine beeindruckende Vielzahl von Archivbeständen aus Washington, Warschau, Berlin, Freiburg und Jerusalem, vor allem aber aus Moskau und Kiew. Der Text enthält für deutsche Publikationen unüblich viele direkte Zitate aus den unterschiedlichen Quellen (zeitgenössische Befehle und Berichte, Zeitzeugenberichte und Memoiren). Gegenstand der Arbeit sind die im Untertitel erwähnten „ukrainischen Partisanenformationen“, richtiger, die in der Ukraine tätigen sowjetischen Partisanenverbände, wobei sich der Autor auf die legendären Verbände unter Führung der teilweise mehrfachen „Helden der Sowjetunion“ Sidor Kovpak, Aleksej Fedorov und Aleksandr Saburov konzentriert. Diese Auswahl ist sinnvoll: Gogun betrachtet die prominentesten sowjetischen Partisanenformationen, um deren Mythos kritisch zu hinterfragen und zu dekonstruieren. Durch die Vielzahl der Zitate werden seine Thesen für den Leser nachprüfbar. In der Einleitung wird diese legitime Aufgabenstellung jedoch nur angedeutet. Vielmehr stellt Gogun eine bald schon rhetorisch zu verstehende Frage, deren Antwort er aber im Verlauf des Werkes schuldig bleibt: „Eine weit verbreitete […] Ansicht geht davon aus, dass all die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges in Europa auf die nationalsozialistische Ideologie des Dritten Reiches und dessen brutale Methoden zurückzuführen sind. […] [es muss] die Frage gestellt werden, inwieweit beide Systeme im Verlauf des Krieges dessen Härte und Grausamkeit beeinflusst hätten.“ (S. 13) So legitim diese Frage auch sein mag, sie wird nirgends analytisch beantwortet, sondern bleibt gewissermaßen als Vorwurf unvermittelt im Raum stehen.
Gogun zeichnet mit großem Detailwissen ein plastisches Bild der Organisation, der Führung, der Aufträge, des Innenlebens und der Kampfesweise der Partisanen; eine Geschichte der Wechselwirkung von Gewalt und Gegengewalt in der Ukraine des Zweiten Weltkriegs leistet er aber nicht. Dies hätte eine Betrachtung der „deutschen Seite“ der Gewalt impliziert – die Besatzungs- und Kriegspraktiken des „Dritten Reiches“ sind aber nicht Gegenstand dieser Arbeit. Der Autor verzichtet auf gewaltsoziologische oder kulturgeschichtliche Theoriegebäude. Das mag mancher vermissen – da der Untersuchungsgegenstand aber letztlich der „Sowjetpartisan“ ist, besticht dennoch auf diesen bezogen die Arbeit durch die konsequent angewandte historisch-kritische Methode. Wenn der Leser diese Eingrenzung des Themas selbst nachvollzieht, dann zeigt sich eine solide militärhistorische Grundlagenforschung: Im ersten Kapitel rekonstruiert der Autor die Organisation der Partisanenformationen und derer Moskauer Führung. Im zweiten Kapitel zeigt er den Wandel und die wechselnden und teilweise konkurrierenden Unterstellungsverhältnisse zwischen der Kommunistischen Partei der Ukraine (KP(b)U), dem NKWD-NKGB bis hin zu den Aufklärungsabteilungen der Fronten bzw. Armeen der „Roten Armee“ im Laufe des Krieges. Diese systematisch und sehr eng an den Quellen gearbeiteten Kapitel sind äußerst lesenswert und gehören zu den stärksten des Buches. Auf diesen beruht die stringent belegte Hauptthese des Werks, dass es sich bei den Sowjetpartisanen um mit Sonderaufträgen ausgestattete Spezialtruppen im Rahmen eines „administrativen Befehlssystems“ statt um eine „breite spontane Bewegung der Volksmassen“ (S. 351) gehandelt habe. Quellenkritisch sei jedoch die Frage erlaubt, ob nicht auf dem Papier der verwendeten Akten der Moskauer Zentralbehörden manche in Moskau gewünschte bolschewistische Zentralisierung sich möglicherweise stärker ausgemacht haben könnte als in der Wirklichkeit der auf sich gestellten Partisanen in den ukrainischen Wälder jenseits der Front. Trotz dieser Einschränkung überzeugt Goguns These – nicht zuletzt, weil er im dritten Kapitel systematisch die zentral erteilten Aufträge Wirtschaftssabotage, Kampfhandlungen und Sabotage gegen Verkehrswege, Terror, Aufklärung und Propaganda sowie „T“-Aufträge (gewissermaßen Terroranschläge gegen VIPs) anhand vieler Beispiele durchdekliniert. Es wird gezeigt, wie sich – je nach Unterstellung – die Prioritäten der unterschiedlichen Aufträge änderten und sich dies wiederum auf die Partisanentätigkeit vor Ort direkt auswirkte. Besonders eindrucksvoll lesen sich die Passagen über die „Zerstörung von Wirtschaftsobjekten“. Hinter dieser „kalten“ Sowjetvokabel verbarg sich die „Taktik der verbrannten Erde“ in den deutsch besetzten Gebieten, die sowohl die Zerstörung von Eisenbahnen und Brücken als auch von Wäldern, Getreidefeldern, Erntemaschinen durch Brandstiftung bedeutete. Hier besticht die Quellennähe. Sie zeigen ein brutal-menschenverachtendes Kampfverständnis ohne Rücksicht auf die – als die eigene proklamierte – Zivilbevölkerung. Hier führt Gogun auch die „Vorgeschichte“ des Massakers von Babyn Jar – dem Mord an über 33 000 Kiewer Juden –, die Zerstörung des Zentrums von Kiew durch ferngezündete Minen aus. Zu betonen ist, dass Gogun keineswegs die deutschen Verbrechen gering einschätzt oder gar relativiert, ihnen aber die Brutalität der Sowjetpartisanen zur Seite stellt. Leider erfahren wir nicht, ob bzw. wie stark das Massaker von Babyn Jar mit der Verminung Kiews in einem inneren Zusammenhang, etwa nach Art einer hier nur angedeuteten „Gewaltspirale“ zusammenhing oder ob die Partisanentätigkeit lediglich als Vorwand für einen ohnehin geplanten Genozid genutzt wurde. Diese bereits im Nürnberger Prozess juristisch behandelte Frage als Historiker neu aufzuwerfen, ist durchaus berechtigt, doch hätte an dieser Stelle auch die Argumentation der Anklage referiert gehört. Die Frage „Gewaltspirale oder a priori geplanter Massenmord“ stellt und beantwortet Gogun nicht, da er sich auf die sowjetische Perspektive beschränkt. Dies ist – nicht nur angesichts der selbst gestellten Aufgabe, die Gewaltinterdependenzen zu untersuchen – eine Schwäche der Arbeit: Der Partisanenkrieg findet bei Gogun fast unter Ausblendung der deutschen Besatzungsherrschaft und deren ideologischer Fundierung statt. Gogun hebt lediglich in einigen eingeflochtenen Sätzen hervor, dass das Ausmaß des kommunistischen Partisanenterrors gegen die ukrainische Bevölkerung bei weitem nicht das Ausmaß der Aktionen des NS-Staates erreicht habe (S. 148).
Andererseits wird aber aus der gewählten „sowjetischen Perspektive“ heraus deutlich, was „ sowjetischer Partisanenkrieg“ in der Praxis für die Zivilbevölkerung in der Ukraine bedeuten konnte: Beispielsweise (S. 114): „niedergebrannt und zerstört: (1) 300 Pferdedreschmaschinen, (2) 7 Dampfdreschmaschinen (3) drei Traktoren […] getötet: 350 deutsche [sic! A.K.] Pferde […] 50 Tonnen Roggen und 60 Stück Vieh vernichtet“. Interessant ist auch die statistisch erhärtete Beobachtung, dass sich der Partisanenkampf hinsichtlich der Opfer weit weniger (Verhältnisse 1:3 bzw. 1:4) gegen die deutschen Besatzer als gegen die aus der Bevölkerung rekrutierte Hilfspolizei – nicht selten als Verräter betrachtete ehemalige KP-Funktionäre – richtete. Eine weitere Stärke der Arbeit stellt die Versachlichung der in der sowjetischen Literatur maßlos übertriebenen Opferzahlen auf deutscher Seite und von Eisenbahnzerstörungen durch Partisaneneinwirkung dar, wobei Gogun zu dem Ergebnis kommt, dass sich die gegenseitig zugefügten Verluste unter den Partisanen einerseits und bei Wehrmacht und SS andererseits in etwa die Waage gehalten hätten (S. 127–128). Sowohl die deutschen Besatzer als auch die Sowjetpartisanen töteten exponentiell mehr Zivilbevölkerung als Gegner. „Der Kulak“ – nicht „der Deutsche“ – war in der Praxis der Sowjetpartisanen das Hauptziel der Angriffe. Deutlich spricht der Autor auch brutalste Foltermethoden der Sowjetpartisanen an und belegt diese aus amtlichen sowjetischen Quellen und aus Selbstzeugnissen der Täter. Zu den wichtigen Ergebnissen der Arbeit gehört sicherlich auch ein Befehl des Chefs des ukrainischen Partisanenstabs (USPB), in dem ein Verhältnis von 1:15 für jeden getöteten Sowjetpartisanen bei Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen von Banderas „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ autorisiert wurde. (S. 144). Bemerkenswert sind nicht zuletzt die unter „T“-Aufträgen subsumierten Ausführungen zu dem auch in der Anklage der Nürnberger Prozesse aufgeführten Tod durch Flecktyphus von etwa 150 000 Insassen im deutschen Kriegsgefangenenlager/Großlazarett 301 in Slavuta. Gogun beschreibt akten- und erinnerungsgestützt die „Sondereinsätze“ des Arztes und Agenten der Hauptverwaltung Aufklärung der Roten Armee, Fedor Michajlov. Dieser operierte mit seiner Organisation im Zusammenwirken mit Partisanengruppen und ließ sowohl deutsche Besatzer wie exponierte sowjetische Kriegsgefangene gezielt durch Verbringung infizierter Läuse anstecken. Während es sich in Bezug auf die deutschen Opfer um eine Form des historisch höchst seltenen Bioterrorismus handelte, diente die Infizierung prominenter sowjetischer Gefangener dazu, diesen – nachdem sie für tot erklärt, insgeheim aber geheilt worden waren – den Übertritt zu den Partisanen zu ermöglichen. Gogun äußert den, durchaus durch Indizien gestützten, Verdacht, dass die Infizierung der Gefangenen im Lager Slavuta durch die „bakteriologische Kriegsführung“ (S. 195) der Michajlov-Gruppe erfolgt sei. Wörtlich bewertet Gogun diese seine Forschungsergebnisse, für die ein eindeutiger Beweis möglicherweise nur deswegen fehlt, weil das Archiv der Hauptverwaltung Aufklärung nicht zugänglich ist, wie folgt: „Wenn die Hypothese der Infizierung von Gefangenen durch Agenten wahr ist, dann liegt die Verantwortung für den Tod sowohl bei den Michajlov-Leuten als auch bei den Deutschen. Das heißt, es kann sich um eine weitere sowjetische Fälschung beim Nürnberger Prozess handeln, die von ihrer Dimension her voll und ganz mit dem Fall Katyn verglichen werden kann und diesen möglicherweise übertrifft.“ (S. 194). Es fällt dem Rezensenten ohne eigene Kenntnis der Akten schwer zu beurteilen, ob die Argumentation Goguns hier überzeugt, bis zur Öffnung der entsprechenden Archive bleibt aber lediglich die auf Indizien beruhende Vermutung im Raum stehen. Weitere klärende Forschung zu diesem Komplex wäre auch im Interesse Russlands wünschenswert.
Alles in allem handelt es sich bei Goguns Forschung über die sowjetischen Partisanen in der Ukraine um ein Werk, mit dem sich die Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg an und hinter der Ostfront ernsthaft auseinanderzusetzen hat. Militärgeschichte zu Kriegszeiten ist grundsätzlich nur in der Interaktion der Kriegsparteien untereinander zu begreifen. Die „dunklen Seiten“ der Sowjetpartisanen wurden in der Vergangenheit weitestgehend ignoriert, sieht man von den – Weißrussland, nicht die Ukraine betreffenden – Arbeiten Bogdan Musials (Sowjetische Partisanen 1941–1944. Paderborn 2009) und von Bernhard Chiaris 1998 in Düsseldorf erschienener Dissertation Alltag hinter der Front ab. Diese von Gogun nicht rezipierten Werke werden durch die nun vorliegende „Fallstudie Ukraine“ ergänzt. Sowjetische Kriegsverbrechen dürfen ebenso wenig verschwiegen werden, wie sie nicht zur Relativierung von NS-Verbrechen missbraucht werden dürfen! Der von Gogun angerissene ukrainische „Krieg im Krieg“ zwischen polnischer Heimatarmee (Armia Krajowa), der Union Ukrainischer Nationalisten und Sowjetpartisanen harrt noch einer vergleichenden Untersuchung dieser drei Kriegsparteien und der deutschen Besatzungsmacht mit ihren lokalen Hilfstruppen. Es wird die Aufgabe von sowohl mit der deutschen, als auch mit der sowjetischen, ukrainischen und polnischen Geschichte vertrauten Militärhistorikern sein, die Ergebnisse Goguns in den Kontext der deutschen Kriegsführung und Besatzungspolitik zu stellen.
Zitierweise: Agilolf Keßelring über: Alexander Gogun: Stalins Kommandotruppen 1941–1944. Die ukrainischen Partisanenformationen. Stuttgart: Ibidem, 2015. 405 S., Abb., Tab. ISBN: 978-3-8382-0720-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kesselring_Gogun_Stalins_Kommandotruppen.html (Datum des Seitenbesuchs)
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