Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 422-423

Verfasst von: Robert Kindler

 

Golod v SSSR 1929–1934. V 3 tomach. [Hunger in der Sowjetunion 1929–1934. In drei Bänden.] Tom 1, knigi 1–2: 1929–ijul’ 1932. Otv. sostovitel’ Viktor V. Kondrašin. Moskva: Meždunarodnyj fond „Demokratija“, 2011. T. 1, kn. 1: 656 S., Tab.; T. 1, kn. 2: 555 S., Tab. = Rossija. XX vek. Dokumenty. ISBN: 978-5-89511-021-8.

Die Hungersnot in der Sowjetunion zu Beginn der 1930er Jahre gehört zu jenen Themen, die eine eigentümliche Doppelexistenz zu führen scheinen: Auf der einen Seite gibt es ein enormes öffentliches Interesse an diesem Problem, das weit über die Grenzen der betroffenen Staaten hinaus reicht und die Hungersnot (namentlich in der Ukraine) zum Gegenstand politischer Bekundungen und Bekenntnisse macht. Auf der anderen Seite steht eine stetig kleiner werdende Gruppe von Fachhistorikern, die sich in jahrzehntelangen Debatten ineinander verbissen haben und deren Publikationen vom Großteil ihrer Kollegen – wenn überhaupt – nur noch flüchtig rezipiert werden. Die Gretchenfrage ihres Streits lautet noch immer: „Wie hältst Du es mit dem Genozid?“

Vor allem mit Blick auf die Ukraine argumentieren die Befürworter der Genozid-These, dass es sich bei der Hungersnot von 1932/33 um eine von Stalin und seiner engsten Umgebung bewusst herbeigeführte Situation gehandelt habe, deren Ziel die Vernichtung der ukrainischen Nation als handlungsfähiges Subjekt gewesen sei. Die Gegner verweisen indes auf zweierlei: Einerseits gibt es für diese Position keinen dokumentarischen Beleg und andererseits war die Ukraine keineswegs die einzige sowjetische Region, in der der Hunger massenhafte Ausmaße annahm. Kurzum, die Debatte ist festgefahren, und solange die beteiligten Historiker in den betroffenen Staaten, vor allem in der Russischen Föderation und in der Ukraine, nicht einigermaßen unabhängig von politischer Instrumentalisierung arbeiten können (und wollen), wird sich daran nur wenig ändern.

Der hier zu besprechende, in zwei Halbbänden erschienene erste Teil einer auf drei Bände angelegten Quellenedition zum „Hunger in der UdSSR, 19291934“ kann daher keinen Ausweg aus diesem Dilemma weisen; auch deshalb nicht, weil ukrainische Wissenschaftler und Archive – im Gegensatz zu ihren weißrussischen und kasachischen Kollegen – nicht an dem Projekt beteiligt waren. Nach Angaben der Herausgeber stellte die ukrainische Seite unerfüllbare Bedingungen für eine Zusammenarbeit. Ob es sich so oder anders verhielt, wissen wir nicht. Doch die dadurch noch einmal unterstrichene Frontstellung lässt sich auch durch die Beteuerungen der Herausgeber nicht aufweichen, die Beschäftigung mit der Hungersnot sei ein geeigneter Gegenstand die „Brudervölker“ zu vereinen und solle nicht dazu beitragen, sie zu entzweien.

Gibt es nun auch etwas Neues zu berichten über den Hunger und seine Vorgeschichte? Zunächst einmal erzählen sowohl die 721 edierten Dokumente aus russischen, weißrussischen und kasachischen Archiven als auch die Kommentare von Vladimir Kozlov, dem ehemaligen Direktor von Rosarchiv, und Viktor Kondrašin, dem Vorsitzenden des Herausgeberkollegiums, eine sattsam bekannte Geschichte, die sich so zusammenfassen lässt: Die stalinsche Führung interessierte sich beinahe ausschließlich für die Getreidebeschaffung und sie ignorierte die Folgen dieser Politik für die Bauern. Sie tat dies, weil durch den Getreideexport finanzielle Mittel erlöst werden sollten, um das forcierte Industrialisierungsprogramm zu realisieren. Der dadurch hervorgerufene Mangel führte zu einer katastrophalen Hungersnot, die jedoch nicht nur die Ukraine, sondern die gesamte Sowjetunion ergriff. Der Hunger war also das Resultat der antibäuerlichen Politik Stalins, nicht aber von vornherein intendiert. Es handelte sich nicht um einen Genozid, sondern um eine „große Tragödie der Völker der UdSSR“ (Teilbd. 1, S. 11).

Diese Geschichte wird mit einer Vielzahl ‚neuer‘ Dokumente unterfüttert, die aufs Ganze gesehen jedoch keine neuen Erkenntnisse bieten. Dass Stalin persönlich intervenierte, wenn die Normen nicht erfüllt wurden, ist ebenso wenig überraschend wie die Bitten von Funktionären auf allen administrativen Ebenen, dass man ihre Lasten reduzieren möge. Als interessanter erweisen sich hingegen die Briefe kleiner Funktionäre und Spezialisten, die ein eindringliches Bild der entstehenden Notlage vermitteln: „Genossin Vostrotina, was sollen wir nur mit diesen kasachischen Waisenkindern machen?“, fragte etwa eine hilflose Kommunistin aus Westsibirien in einem Brief, in dem von der dramatische Situation der kasachischen Hungerflüchtlinge die Rede war (Teilbd. 2, S. 131 f). Solche Dokumente sind es, die einen Eindruck davon vermitteln, welche Folgen es hatte, wenn die Führer auf den Höhen der Macht von „Planerfüllung“ und „Kollektivierung“ sprachen.

Die Dokumente sind kenntnisreich kommentiert und überhaupt lässt die Edition kaum Wünsche offen: Eine systematische Gliederung der Dokumente innerhalb von vier großen Abschnitten erleichtert die Orientierung, Namens- und Ortsregister helfen beim schnellen Zugriff. Für fast alle namentlich erscheinenden Personen sind Kurzbiographien verfügbar. Ein kurzer Text über die demographische Entwicklung in der frühen Sowjetunion ordnet die Zahl der Todesopfer in einen größeren Kontext ein.

Doch ist die systematische Anordnung der Quellen nicht nur hilfreich, sondern sie offenbart auch, dass es sich bei einer kleinen Bemerkung aus dem Vorwort Kozlovs nicht nur um eine ungeschickte Darstellung, sondern um einen ebenso ernst gemeinten wie problematischen konzeptionellen Aspekt handelt. Kozlov wies darauf hin, dass es in der Ukraine drei bis dreieinhalb Millionen Hungertote gegeben habe, während in der RSFSR ca. vier Millionen Todesopfer zu beklagen gewesen seien (Teilbd. 1, S. 9). Damit wollte er den Punkt unterstreichen, dass andere Regionen in ganz ähnlicher Weise wie die Ukraine vom Hunger betroffen waren. Deshalb zählte Kozlov die rund 1,5 Millionen kasachischen Hungertoten zu den russländischen Opfern und aus diesem Grunde erscheinen die Dokumente zur Situation in der zentralasiatischen Republik als Unterkategorie des Eintrags „Russland“ (Teilbd. 2, S. 543). Formal ist daran nichts auszusetzen, schließlich war Kasachstan als autonome Sowjetrepublik Bestandteil der RSFSR. Doch eine solche Setzung ignoriert die spezifischen Bedingungen des Hungers in Kasachstan und liefert ein verzerrtes Bild von den überproportionalen Belastungen der nationalen Republiken. Deshalb verhält es sich mit dieser Quellenedition wie mit so vielen anderen auch: Benutzt man sie als „Steinbruch“, so ist sie von größtem Nutzen. Als Interpretation der Hungersnot bietet sie hingegen wenig Neues und manches Ärgerliche.

Robert Kindler, Berlin

Zitierweise: Robert Kindler über: Golod v SSSR 1929–1934. V 3 tomach. [Hunger in der Sowjetunion 1929–1934. In drei Bänden.] Tom 1, knigi 1–2: 1929–ijul’ 1932. Otv. sostovitel’ Viktor V. Kondrašin. Moskva: Meždunarodnyj fond „Demokratija“, 2011. T. 1, kn. 1: 656 S., Tab.; T. 1, kn. 2: 555 S., Tab. = Rossija. XX vek. Dokumenty. ISBN: 978-5-89511-021-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kindler_Golod_v_SSSR_1929_1934_Tom_1.html (Datum des Seitenbesuchs)

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