Alexis Hofmeister Selbstorganisation und Bür­gerlichkeit. Jüdisches Vereinswesen in Odessa um 1900. Verlag Vandenhoeck & Rup­recht Göttingen 2007. 285 S., 14 Abb., 23 Tab. = Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, 8. ISBN: 978-3-525-36986-9.

Alexis Hofmeisters Buch gilt dem jüdischen Vereinswesen in Odessa an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, doch ist es keine klassische Vereinsgeschichte. Vielmehr orientiert sich der Autor am von Maurice Agulhon geprägten theoretischen Konzept Soziabilität/sociabilité und ordnet das lokale Vereinswesen Odessas in das weite soziale Feld zwischen Familie und Staat ein, setzt verschiedene Organisationsformen und Strukturen sowie historische Dynamik voraus. Zahlreich sind Bezüge auf die jüngere Bielefelder Bürgertumsforschung.

Die Etablierung jüdischer Vereine in Odessa seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts begreift Hofmeister als „Verdichtung der Kommunikation“ und „Vergesellschaftung unter der jüdischen Stadtbevölkerung“, die in ersten Linie auf säkularer Bildung und materiellem Vermögen, somit bürgerlichen Werten, beruhten. Im russländischen Zusammenhang charakterisiert er das Vereinsleben als Ersatz für die fehlenden Vermittlungsinstanzen zwischen Bevölkerung und Staat, zwischen Peripherie und Zentrum sowie zwischen Juden und Nichtjuden. Darüber hinaus betrachtet er den Verein als moderne Form jüdischer Selbstorganisation, alternativ zu den traditionellen jüdischen Gemeinden und Bru­derschaften, und schließlich als säkular verfasste „Schule jüdischer Politik“, die weit über Odessa und das frühe 20. Jahrhundert hinausweist.

Im Hauptteil seines Buches konzentriert sich Hofmeister auf die vier großen jüdischen Vereine in Odessa, die er jeweils spezifischen politischen und generationellen Profilen zuordnet: Der schon 1863 gegründete ‚Selbsthilfeverein der jüdischen Handlungsgehilfen Odessas‛ (OVP) steht nach Meinung des Autors exemplarisch für die voranschreitende Säkularisierung unter den aufstrebenden jüdischen Angestellten. In der 1867 eröffneten Odessaer Filiale der Petersburger ‚Vereinigung zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden in Russland‛ (OPE) beobachtet Hofmeister zunächst eine elitäre, von Emanzipationshoffnungen getragene Orientierung an westlichen Bildungsidealen, erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine deutliche Demokratisierung jüdischer Politik. Im seit 1890 als wohltätiger Verein eingetragenen ‚Hilfsverein für die jüdischen Landarbeiter und Handwerker in Syrien und Palästina‛ (OVZ) sieht er ein nationales Verständnis jüdischer Selbstorganisation in Konkurrenz zu den integrativen Vorstellungen des OPE; intern konstatiert er einen generationellen Wandel von den populistisch-agrarischen Idealen der Gründer zu offen zionistischen Bildungsprojekten in Palästina. Und schließlich nimmt er die seit 1912 in Petersburg bestehende ‚Vereinigung zum Schutz der Gesundheit der jüdischen Bevöl­kerung‛ (OZE) und den 1917 in ihrem Sinne gegründeten Odessaer Sportklub ‚Makkabi‛ als Indiz für den Anspruch der jüdischen Diasporagruppe, kulturelle Verschiedenheit öffentlich zu repräsentieren und sportlich zu verteidigen.

Der methodische Ansatz, ein schwer zu überschauendes Quellenkorpus von wenig attraktiven, überwiegend deskriptiven Vereinsschriften nach dem Kriterium der Soziabilität zu strukturieren und zu analysieren, um auf dieser Grundlage eine historische Soziologie des jüdischen Vereinslebens in Odessa zu entwickeln, ist überzeugend. Problematisch erscheint hingegen die abschließende, oft verflachende Typologisierung der behandelten Vereine. So ist die Einordnung des ‚Selbsthilfevereins der jüdischen Handlungsgehilfen Odessas‛ unter dem Stichwort Säkularisierung fragwürdig, wenn die angeführten Quellen die Kontinuität religiöser Praxis im Vereinsleben bezeugen. Hofmeister behauptet indessen, die modernen Vereine hätten die traditionelle jüdische Gemeinde und die Bruderschaften abgelöst, die den veränderten Bedürfnissen von Juden in der Großstadt nicht gewachsen gewesen seien. Dieser These widerspricht jedoch die Kontinuität der Jüdischen Gemeinde Odessa, die wie kaum eine andere für religiösen Pluralismus stand, sowie zahlreicher jüdischer Vereinigungen nach dem Modell der nach 1844 in die Illegalität gedrängten religiösen Bruderschaften.

Und doch könnte es einen Ausweg aus diesem argumentativen Dilemma geben: Hofmeister selbst räumt ein, dass die soziale Basis der meisten jüdischen Vereine Odessas das „Milieu der nach europäischer Bildung strebenden, modern gekleideten und Russisch sprechenden Juden“ war, und erfasst damit allein offiziell zugelassene Vereine. Ausgehend von der Hypothese, dass weder das jüdische Vereinswesen konsequent säkular noch die jüdischen Bruderschaften „traditionalistisch“ und reformresistent waren, wäre eine umfassende und ausgewogene Analyse legaler wie illegaler jüdischer Vereinigungen in Odessa um 1900 denkbar. Hofmeisters Fallanalysen und Erkenntnisse sind ein wichtiger Schritt auf diesem Weg, nicht zuletzt, weil sie der veralteten These vom Mangel an Bürgerlichkeit in Russland wieder ein Stück Boden genommen haben.

Yvonne Kleinmann, Leipzig

Zitierweise: Yvonne Kleinmann über: Alexis Hofmeister: Selbstorganisation und Buergerlichkeit. Juedisches Vereinswesen in Odessa um 1900. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Goettingen 2007. 285 S. = Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, 8. ISBN: 978-3-525-36986-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 108-109: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kleinmann_Hofmeister_Selbstorganisation.html (Datum des Seitenbesuchs)