Leonid Luks Zwei Gesichter des Totalitarismus. Bolschewismus und Nationalsozialismus im Vergleich. 16 Skizzen. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2007. 306 S.
Eine bedauernde Feststellung vorweg: Um wie viel besser lesbar und diskutierbar wäre dieses Buch, hätte der Autor sich entschlossen, statt einer Sammlung von 16 Aufsätzen aus gut zehn Jahren einen längeren Essay zu verfassen, der seine zentralen Argumentationslinien kohärent entfaltet hätte. Es sind schließlich interessante ideengeschichtliche Betrachtungen, mit denen Luks versucht, einige Schneisen und Lichtungen in die verschlungene Geschichte der totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts zu schlagen.
Seinen Ausgangspunkt bildet die Feststellung, dass gerade Deutschland und Russland zum „Zentrum der Auflehnung gegen das überlieferte europäische Menschenbild“ geworden seien, und damit zu den Herden einer „totalitären Doppelrevolution“. Die beiden großen Ideologien dieses Zeitalters, „Rassenlehre“ und „Klassenkampftheorie“, seien in ihren Grundzügen bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert vorformuliert worden.
In anregenden Doppelstudien werden Dostojewski und Treitschke sowie Chamberlain und Lenin einander exemplarisch gegenüber gestellt. Die Gedanken der Ersteren kreisten jeweils um die Frage der „organischen Einheit“ der Nation, die sie durch die Juden als Hauptträger der Zersetzung in Frage gestellt sahen. Während Dostojewskis konservatives Programm in Russland scheiterte, habe Treitschkes Judenfeindschaft die deutsche Kultur dauerhaft geprägt. Chamberlain habe sich im Geist eines „grenzenlosen Geschichtspessimismus“ bereits zu expliziten Ausrottungsphantasien vorgewagt. Erst Hitler als Jünger Chamberlains habe aber auch dessen arischen Christglauben verworfen und damit „den letzten zivilisatorischen Ballast“ abgeworfen, der einer „Endlösung der Judenfrage“ noch im Wege gestanden habe.
Lenin dagegen mit seiner von „grenzenlosem Geschichtsoptimismus“ getragenen Klassenkampflehre habe eine organische Einheit anderer Art im Auge gehabt. In der bolschewistischen Machteroberung 1917 habe sich, so Luks, der „egalitäre Rausch“ und „nationale Nihilismus“ der russischen Intelligenzija mit entsprechenden Stimmungen der proletarisch-bäuerlichen Massen verbunden. Allerdings habe die Industrialisierungs- und Modernisierungsrevolution in den Dreißigerjahren zu einer spontanen, nachholenden Nationalisierung der Massen geführt, der Stalin mit geschärftem Machtinstinkt nur entsprochen habe.
Von besonderem Interesse sind Luks’ Betrachtungen über die fundamentale Unfähigkeit der Bolschewiki, die rivalisierenden faschistischen Bewegungen zu verstehen und ihre Gefährlichkeit einzuschätzen. Mit ihrem im Kern naiven Fortschrittsglauben seien ihnen „die heroisch-nihilistischen Aspekte des westlichen Nationalismus“ und die Durchschlagskraft eines irrationalen Geschichtspessimismus in der Krisensituation des Nachkriegs konstitutionell fremd gewesen. Sie hielten die Faschisten Mussolinis für eine „bürgerliche Partei neuen Typs“, und ihre Kampfformen für eine „genaue Kopie der bolschewistischen Taktik“ (so Bucharin). Vollends versagten ihre Faschismustheorien aber im Angesicht des deutschen Nationalsozialismus, der (so Luks) seinerseits eine „faschistische Partei neuen Typs“ gewesen sei. Wie die Moskauer Rundschau im April 1933 schrieb, könne das „Geschwätz“ der Naziführer von einer „Säuberung vom jüdischen Element“ „von niemandem ernst genommen“ werden. Ebenso wenig habe Stalin den maßlosen Eroberungs- und Vernichtungswillen Hitlers verstehen können.
Mit einem gewissen Hang zu apodiktischen Gegenüberstellungen charakterisiert Luks Hitler als einen (für die alten Eliten des Reiches) nach innen berechenbaren, nach außen aber unberechenbaren Machtpolitiker, während er Stalin umgekehrt als einen (für die alten Bolschewiken wie für die übrige Welt) nach Innen unberechenbaren, nach außen aber durchaus berechenbaren, vorsichtig und pragmatisch operierenden Machtpolitiker zeichnet. Anders als Hitler, habe Stalin keinerlei Neigung zum Vabanque gezeigt. Aber war nicht gerade das Spiel mit Hitler ein Vabanquespiel ersten Ranges? Oder (wie Luks selbst konzediert): War nicht die Art und Weise, wie Stalin am Vorabend und während des Korea-Krieges seine Partei und seine Verbündeten, hier vor allem Maos China, in ein Endkampfszenario hineinsuggerierte, durchaus ein Stück weltpolitischer „brinkmanship“?
Man versteht schon, worum es dem Autor zu tun ist. Aber hier wie an einigen anderen Punkten tendieren seine allzu bündigen Gegenüberstellungen leicht zu Juxtapositionen, in denen Sachverhalte auf problematische Weise zueinander gerückt werden. So, wenn Luks in einer Betrachtung über Terror und Führerkulte in beiden Regimen von einer „Führer-Hypnose“ spricht, die hier wie dort ein „Ausbruch der Irrationalität und der Massenpathologie“ im Zeichen einer „beispiellosen Identitätskrise“ gewesen sei – „einer ungefestigten Demokratie in dem einen und einer verunsicherten ‚Partokratie’ … im anderen Fall“. Dass es sich um zwei vollkommen unterschiedliche Länder in kaum vergleichbaren historischen Situationen gehandelt hat, verschwimmt in solcher Vogelperspektive eher.
Ein steter Referenzpunkt des an der Katholischen Universität Eichstätt lehrenden Autors bleibt im übrigen ein theologisches Ceterum censeo, dem man gerne folgen würde, wenn man nur könnte. In letzter Instanz nämlich, schreibt Luks, sei „das Gewissen des ‚alten‛, von der jüdisch-christlichen Ethik geprägten Menschen … der größte Widersacher des Totalitarismus“ gewesen. Im Falle widerständiger Einzelner ist das sicherlich so gewesen; wenngleich die Gewissensbildung bei vielen kommunistischen Renegaten (darum geht es in dieser Passage) sich auch ganz ohne Rekurs auf eine „christlich-jüdische Ethik“ vollzogen hat. Das epochale Versagen der Römischen Kirche wie der deutschen Protestanten im welthistorischen Spannungsfeld von Bolschewismus und Nationalsozialismus ist damit allerdings allzu leichthin übergangen, wenn nicht sogar unterschlagen. Wie überhaupt die Ausblendung aller sonstigen weltpolitischen, geistigen oder sozialökonomischen Zeitumstände zum unvermeidlichen Preis und zur beschränkten Reichweite solcher wesentlich ideologiegeschichtlich und totalitarismustheoretisch argumentierenden Systemvergleiche gehört.
Dennoch: Man liest das Buch wegen seiner vielfältigen, zuweilen überraschenden Querbetrachtungen mit einigem Gewinn – und wird am Ende noch mit einem recht düsteren Ausblick und Einblick in die Ideologieküchen der heutigen russischen „Eurasier“ und „Geopolitiker“ belohnt, die sich in mancher Hinsicht an einer Fusion dieser fatalen geistigen Erbschaften des 20. Jahrhunderts versuchen.
Gerd Koenen, Freiburg/Br.
Zitierweise: Gerd Koenen über: Leonid Luks: Zwei Gesichter des Totalitarismus. Bolschewismus und Nationalsozialismus im Vergleich. 16 Skizzen. Boehlau Verlag Koeln, Weimar, Wien 2007. ISBN: 978-3-412-20007-7, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 611-612: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Koenen_Luks_Zwei_Gesichter.html (Datum des Seitenbesuchs)