Isabelle de Keghel Die Rekonstruktion der vorsowjetischen Geschichte. Identitätsdiskurse im neuen Russland. Lit Verlag Hamburg, Münster 2006. 677 S. = Osteuropa: Geschichte, Wirtschaft, Politik, 38.

Die Sowjetunion erlebte nach dem Antritt Michail Gorbatschows einen grundlegenden Wandel. Den klar erkennbaren Umbruch in der ökonomischen und politischen Gestalt des Staates begleiteten subtilere soziale und kulturelle Prozesse, deren Substanz und deren Folgen erst aus einem zeitlichen Abstand heraus verständlich werden. Ein solcher, von der Transformation des Sowjetregimes nicht wegzudenkender Prozess war auch die Neubewertung des Verhältnisses zur Vergangenheit. Im Rückblick erscheint die Entstehung des neuen Geschichtsbilds einfach: Das durch die Diskreditierung der sowjetischen Historiographie entstandene Vakuum wurde nach und nach mit Hilfe offengelegter Archivunterlagen durch objektivere Konzepte aufgefüllt. Isabelle de Keghel hat sich jedoch entschieden, diese Erklärung nicht hinzunehmen. Ihrer Ansicht nach war der Wandel in der Interpretation der Vergangenheit in der Sowjetunion bei weitem nicht eindeutig, er verlief in mehreren Phasen ab, und mit ihren jeweiligen Strategien waren daran unterschiedlich motivierte Akteure beteiligt. Die Tatsache, dass sich unter ihnen oft nur wenige Geschichtsexperten befanden, überrascht Keghel nicht. Ihrer Meinung nach ging es nämlich in der Debatte über die Vergangenheit des Staates nicht nur um eine Geschichtsrevision an sich, sondern vor allem um ihre Fähigkeit, eine öffentliche Diskussion neuer Regeln, eines Wertesystems der Gesellschaft zu befördern und gleichzeitig der neuen politischen Macht als Instrument der Legitimierung und Integration zu dienen.

Ausgangspunkt ist für Keghel eine Analyse der letzten sowjetischen Geschichtslehrbücher für die Schulen und eine umfassende Untersuchung des geschichtlichen Diskurses, wie er sich während der Perestrojka in Zeitungen und Zeitschriften widerspiegelte. Das Pendant der sowjetischen Diskussion stützte Keghel dann auf Schulbücher der Landesgeschichte, die von der Regierung der Russischen Föderation Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts empfohlen wurden. Überzeugt davon, dass die Geschichtswissenschaft ihrem Thema kein ausreichendes theoretisches Umfeld bietet, griff Keghel auf die Ethnologie zurück, genauer auf Niedermüllers Forschungen zur postsozialistischen Transformation der politischen, kulturellen und sozialen Symbolik. Keghel überprüft die Gültigkeit seiner Theorie im postsowjetischen Russland durch Schlüsselstudien zum Wandel der Interpretation dreier zentraler Themen der modernen russischen Geschichte. Das erste definiert sie als die Problematik der politischen Gewalt und illustriert den sich wandelnden Bezug der Gesellschaft zu diesem Thema anhand der Entwicklung der Interpretationen des Bürgerkrieges von 1917–1921. Ein zweites gesamtgesellschaftliches Thema findet Keghel im Standpunkt der sowjetischen und der postsowjetischen Öffentlichkeit zur Reformpolitik von Nikolaus II. und ein drittes in den Ansichten zur parlamentarischen Tradition, wie sie die Staatsduma verkörperte.

Keghel interessiert nicht das Ergebnis der Diskussionen, also die Gestalt der geschichtlichen Identität der Russen. Ihr geht es nämlich mehr um den Prozess des Zusammenfügens der geschichtlichen Identität an sich. Zuerst schildert sie daher die Atmosphäre des allmählichen Zerfalls des Sowjetimperiums, verweist auf den Stand des geschichtlichen Bewusstseins und seine rigide staatliche Kontrolle. Wir verfolgen, wie sich ab 1987 prominente Periodika hiervon befreiten und in ihnen wieder die Generation der nach Chruschtschows Fall zum Schweigen gebrachten Reformkommunisten zu Wort kam. Keghel schreibt ihnen die Absicht zu, den marxistisch-leninistischen ideologischen Rahmen durch die Kritik an Stalin als denjenigen, der die revolutionären Ideale der ersten bol’ševiki deformiert habe, zu bewahren. Ihr zufolge formulierten gerade die Reformkommunisten die Theorie der „weißen Flecken“ in der Geschichte, welche – sofern sie beschrieben und ergänzt werden – einen realistischen Rückblick gestatten sollten. Die Methodologie ebenso wie die Auslegung wichtiger Ereignisse konnten somit am Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts nur geringe Veränderungen erfahren. Das Ziel, die Lebensfähigkeit des Sozialismus zu beweisen, habe sich als unerreichbar erwiesen, als klar wurde, dass auch die von ihnen angebotenen Konzepte ihre Lücken hatten. Paradoxerweise trug so nach Keghel gerade das selektive Gedächtnis der Reformkommunisten zum Zerfall der sowjetischen Geschichtsinterpretation bei.

Gleichzeitig begann die sowjetische Gesellschaft in jener Epoche nach neuem moralischem Kapital zu suchen, das der Konstituierung des bolschewistischen Regimes vorangegangen war. An diesen weiteren Teilen des Diskurses über die Vergangenheit, bei dem gerade in der Zeit des letzten russischen Zaren die Inspiration zur Neukonstruktion der russischen geschichtlichen Identität gefunden wurde, waren nach Keghel neue Akteure beteiligt: Demokraten und Nationalpatrioten. Statt „weißer Flecken“ suchten sie nach Antagonismen innerhalb des Systems und veränderten mit deren Hilfe die Akzentuierung der Ereignisse und ihre Bewertung. Keghel spricht in diesem Zusammenhang von der Schaffung einer Antigeschichte. Unmittelbar darauf widmet sie sich der Beziehung zwischen konkreten Themen, den einzelnen Protagonisten der Diskussion und der daraus resultierenden Geschichtsinterpretation in den russischen Schulbüchern.

Keghel öffnet den Weg zum Kennenlernen des Prozesses, der dem Entstehen einer geschichtlichen Selbstreflexion des heutigen Russland vorausgegangen ist. Die Vielzahl der in dieser Selbstreflexion enthaltenen Motive hat sie auf jene eingegrenzt, die sich in der Diskussion der zeitgenössischen Periodika am deutlichsten abzeichneten. Die Einengung der Quellen für die Analyse war in der Textflut sicherlich ebenso schwierig wie unumgänglich. Die Autorin setzte dadurch gleichzeitig die Genauigkeit ihrer Feststellungen aufs Spiel. Das Ausklammern der Buchproduktion hat zwangsläufig dazu geführt, dass einige wesentliche Tatsachen und Themen übergangen wurden. So wird etwa der Einfluss von Ansichten ausländischer Sowjetologen, deren Werke in der Sowjetunion nach 1988 erschienen, in unzulässiger Weise marginalisiert. Außerhalb des Blickwinkels der Publikation bleiben ebenso der grundlegende Wandel in der Einstellung zu den Kirchen, das Wiederaufleben der Kultur oder von nationalen Identitäten. Keghel scheint geradezu die Konzentration der sowjetischen Geschichtsschreibung auf ökonomische und politische Aspekte zu übernehmen. Das wesentliche Ziel wurde jedoch erreicht. Keghel ist es gelungen, mit Hilfe von Niedermüllers Schlüssen in die komplizierte Metamorphose der geschichtlichen Identität des postsowjetischen Russland ein System zu bringen, und sie hat auch die Entwicklung des Begriffsapparats nicht vernachlässigt. Ebenso ist es ihr auch gelungen, über die Expertendiskussion, welche die Öffentlichkeit nur teilweise ansprach, hinauszugehen und ein breites Einflussspektrum zu berücksichtigen. Sie hat aufgezeigt, wie sich an der Formierung der neuen Geschichtsidentität der Russen politische Akteure beteiligten, und damit rückwirkend Hilfestellung bei der Interpretation ihrer Programme geleistet. Auch die neuen russischen Nationalmythen haben dank Keghel an Plastizität gewonnen. Das hier rezensierte Buch liefert so einen deutlichen Impuls für die weitere Forschungstätigkeit. Einen Impuls nicht nur für Historiker, sondern auch für andere gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen.

Daniela Kolenovská, Prag

Zitierweise: Daniela Kolenovská über: Isabelle de Keghel Die Rekonstruktion der vorsowjetischen Geschichte. Identitätsdiskurse im neuen Russland. Lit Verlag Hamburg, Münster 2006. 677 S. = Osteuropa: Geschichte, Wirtschaft, Politik, 38. ISBN: 3-8258-8201-2, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kolenovska_DeKeghel_Rekonstruktion_der_vorsowjetischen_Geschichte.html (Datum des Seitenbesuchs)