Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), H. 3, S. 526-527

Verfasst von: Kristina Küntzel-Witt

 

Svetlana Kirschbaum: Apologien Russlands. Ein russisch-deutsches Presse-Projekt (1820-1840) und dessen Gestalter Fedor I. Tjutčev und Friedrich L. Lindner. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2015. 257 S. = Russkaja kul'tura v Evrope – Russian Culture in Europe, 10. ISBN: 978-3-631-65898-7.

Im kulturellen Gedächtnis Russlands nimmt die Liebeslyrik von Fedor I. Tjutčev (1803–1872) eine herausragende Rolle ein, dass er ein erklärter Panslavist war und viele politisch motivierte Gedichte veröffentlicht hat, ist heute weniger bekannt trotz seiner vielfach zitierten Zeilen „an Russland muss man einfach glauben“. Svetlana Kirschbaum gelingt es in ihrer an der Universität Regensburg angenommenen Dissertation, diese Seite Tjutčevs in einem neuen Licht erscheinen zu lassen, indem sie sich auf die frühen Jahre des Dichters in München konzentriert und dabei Erstaunliches zu Tage fördert.

In seiner Zeit in München in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts beteiligte sich der junge Lyriker an einem Presseprojekt, dass die öffentliche Meinung Europas zugunsten von Russland beeinflussen sollte. Nach dem Krieg Russlands mit dem Osmanischen Reich, der Befreiung Griechenlands (1828/29) und der Niederschlagung des Aufstands der Dekabristen häuften sich in der deutschsprachigen Presse negative Berichte über die russische Politik. Tjutčev arbeitete zu diesem Zeitpunkt für die Russische Gesandtschaft in München und lernte dort den Publizisten Friedrich Ludwig Lindner (1772–1845) kennen.

Lindner, geboren im kurländischen Mitau, studierte dort und in Jena Philosophie und Medizin. 1800 ging er nach Wien und arbeitete einige Jahre als Arzt, bis er in Jena eine Professur für Philosophie erhielt, die er aber 1814 im Zuge des Skandals um die Veröffentlichung der Geheimpapiere von August von Kotzebue verlor, die Lindner anonym veranlasst hatte. Danach machte er sich als liberal gesinnter Journalist in Stuttgart einen Namen. 1824 musste er aufgrund des Kotzebue-Skandals und vielleicht auch wegen seiner Veröffentlichung des Stuttgarter Manifests, worauf Svetlana Kirschbaum nicht eingeht, die Stadt verlassen. Er kam nach München, wo er den jungen Tjutčev traf. Lindner regte selbst an, prorussische Artikel in der Allgemeinen Augsburger Zeitung zu veröffentlichen. In seinen Artikeln betonte er Russlands Rolle als Befreier Europas von Napoleons Armeen und als Bewahrer des Status quo in Europa.

Da seine Beziehungen zum Russländischen Reich wegen der Kotzebue-Affäre mehr als getrübt waren, bemühte sich Lindner aktiv darum, diese durch seine publizistische Tätigkeit zu verbessern, und beantragte später sogar einen russischen Pass. Dank einem panegyrisch formulierten Nekrolog auf Alexander I. gelang es Lindner, für sein Presseprojekt bei der Russischen Gesandtschaft Gehör zu finden. (S. 45–50). Da der bayerische König Ludwig I. ein ausgesprochener Fürsprecher für die Unabhängigkeit Griechenlands war, herrschte in München eine weniger antirussische Stimmung als in anderen Ländern. Ludwig I. selbst veröffentlichte sogar eine Ode an den Zaren, in der er diesen für die Befreiung Griechenlands in den höchsten Tönen lobte (S. 80–87). Tjutčev hatte diese Ode ins Russische übersetzt, womit er die Aufmerksamkeit von Nikolaus I. erregen wollte (S. 87–96).

Im nächsten Kapitel wird die Rezeption des Polnischen Aufstands (1830/31) behandelt, als eine noch weitaus schärfere anti-russische Stimmung in Westeuropa entstand. Wieder versuchte Lindner in seinen Artikeln das Zarenreich als Stabilisator der europäischen Machtverhältnisse darzustellen. Für Lindner war Polen selbst schuld am Verlust der eigenen Souveränität, weil die polnische Adelsrepublik in Anarchie abgeglitten sei. Seine Ausführungen gipfeln schließlich in dem Vorschlag, dass in Polen eine prorussische, aber eigenständige Dynastie eingesetzt werde und als Kompensation dafür Russland Konstantinopel erhalten sollte (S. 128). 1832 durfte Lindner nach Stuttgart zurückkehren, danach brach sein Kontakt zur Russischen Gesandtschaft ab.

In seinem Gedicht Kak doč rodnuju na zaklan’e äußerte sich auch Tjutčev zum Polenaufstand. Das Gedicht war nicht zuletzt eine Reaktion auf Puškins patriotisches Gedicht Klevetnikam Rossii. Im Gegensatz zu Puškin äußerte Tjutčev Mitleid mit den unterlegenen Aufständischen, er zieht in seinem Poem einen Vergleich zum griechischen Drama um Agamemnon, der seine Tochter Iphigenie opfern muss, um Erfolg zu haben – in dieser Rolle sieht Tjutčev das Russländische Reich, dass Polen opfern musste, um seine Einheit zu erhalten. (S. 149 ff.).

Tjutčev versuchte in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts das Presseprojekt wiederzubeleben; dieser Versuch stellt den vierten und letzten Teil der Monographie dar. Nach einem Intermezzo in Turin, hatte er den diplomatischen Dienst verlassen müssen, weil er sich unerlaubt in die Schweiz begeben hatte, um seine zweite Frau zu heiraten. Er kehrte als Privatmann nach München zurück und lebte von 1840–1844 in der bayerischen Metropole in finanziell prekären Verhältnissen. In dieser Zeit verstärkten sich die antirussischen Stimmen in ganz Europa, insbesondere nach der Veröffentlichung von Astolphe de Custines La Russie en 1839. Tjutčev versuchte darauf zu reagieren, indem er den Münchner Historiker und Orientalisten J. Ph. Fallmerayer dafür gewinnen wollte, eine ähnliche Rolle wie zuvor Lindner zu spielen. Als Fallmerayer absagte, war es schließlich Tjutčev selbst, der versuchte, über Publikationen Einfluss sowohl auf die deutsche Öffentlichkeit zu gewinnen als auch auf Nikolaus I., an den er ein Memorandum richtete, in dem bereits viele seiner panslavistischen Ideen formuliert waren. In dieser Schrift wird der römische Katholizismus als größte Plage für die Südslaven dargestellt (S. 175). Dass Polen sich von Russland entfremdet habe, liege vor allem an seinem unbedingten Festhalten am Katholizismus. Für das Memorandum erhielt er 6.000 Rubel. Es wurde veröffentlicht und in Westeuropa als offizielle Verlautbarung der Autokratie aufgefasst.

Nur sein eigentliches Ziel erreichte Tjutčev nicht: Er hatte in Westeuropa bleiben wollen, aber nachdem sein Fürsprecher Alexander von Benckendorff 1844 starb, musste Tjutčev nach Russland zurückkehren. Er übernahm wenig später die Position eines Zensors für die westeuropäische Presse, womit er ein Auskommen gefunden hatte. Hier wird die große Ambivalenz der Persönlichkeit Tjutčevs sehr deutlich: Er, der erklärte Panslavist, der in seinen späteren Schriften immer stärker die Rolle Russlands als dominante Macht eines slavischen Imperiums betonte, sprach besser Französisch als Russisch, lebte 22 Jahre im Ausland und kehrte im Grunde nicht freiwillig nach St. Petersburg zurück. All diese Widersprüche bei Tjutčev werden von Svetlana Kirschbaum sorgfältig herausgearbeitet, genauso wie die bei Lindner, der als Bonapartist die Rolle Russlands bei den Napoleonischen Kriegen positiv hervorhebt. Auch er erscheint als eine höchst widersprüchliche Persönlichkeit.

Darüber hinaus ist Svetlana Kirschbaum eine Studie gelungen, in der das Denken dieser Epoche wunderbar zum Ausdruck gebracht wird. Sie vermittelt lebhafte Eindrücke vom damaligen Leben eines Journalisten und Intellektuellen und erläutert nebenbei die Entwicklung der slavophilen und panslavistischen Ideen.

Am Ende sind die Ode Ludwigs I. an Nikolaus I. sowie Tjutčevs Memorandum an den Zaren und das Gedicht Kak doč rodnoju na zaklan’e (S. 215–217) abgedruckt. Es folgen die Briefe Lindners an Cotta (S. 218–240) und ein Resümee auf Russisch (S. 241–252), außerdem ergänzen eine Bibliographie und ein Personenregister die Studie.

Dieser sorgfältig recherchierten Dissertation sind viele Leser zu wünschen; Kirschbaum ist ein sehr lesenswerter Beitrag zu den deutsch-russischen Beziehungen im 19. Jahrhundert gelungen.

Kristina Küntzel-Witt, Lübeck

Zitierweise: Kristina Küntzel-Witt über: Svetlana Kirschbaum: Apologien Russlands. Ein russisch-deutsches Presse-Projekt (1820-1840) und dessen Gestalter Fedor I. Tjutčev und Friedrich L. Lindner. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2015. 257 S. = Russkaja kul'tura v Evrope – Russian Culture in Europe, 10. ISBN: 978-3-631-65898-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kuentzel-Witt_Kirschbaum_Apologien_Russlands.html (Datum des Seitenbesuchs)

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