Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  434-435

Tomasz Giaro (Hrsg.) Modernisierung durch Transfer im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Vittorio Klostermann Verlag Frankfurt a.M. 2006. 344 S. = Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfer, 1. ISBN: 3-465-03489-9.

Die ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas stehen seit der Wende vor der Aufgabe, ihre Rechtsordnungen komplett umzuschreiben. Die­jenigen, die der EU beitreten oder sich ihr zumindest annähern wollen, müssen ihr Recht zudem gemeinschaftsrechtskompatibel machen. Das Hauptinstrument zur Bewältigung dieser herkulischen Aufgabe ist die Rezeption.

Rechtsrezeption ist in Osteuropa kein neues Phänomen, sondern die Region kann auf eine beträchtliche Rezeptionsgeschichte zurückblicken, deren Kenntnis heutige Probleme besser zu verstehen hilft. Seit einigen Jahren erforscht ein größeres Projekt unter Leitung von T. Giaro diesen von der westeuropäischen Forschung bisher stiefmütterlich behandelten Teil der osteuropäischen Rechtsgeschichte. Der vorliegende erste Band mit Forschungsergebnissen hat die Vorläufer, das 19. und frühe 20. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg zum Gegenstand; Anschlussbände behandeln die Zwischenkriegszeit und die Juristenausbildung.

Der zu besprechende Band beginnt mit einem Beitrag von K. Maksimovič über die bis ins frühe Mittelalter zurückreichende Tradition der Rezeption des byzantinischen Rechts in den orthodoxen Ländern. Mit dieser umfassenden Darstellung der Aufnahme und Übersetzung byzantinisch-römischer Rechtstexte tritt er dem im Westen weit verbreiteten Vorurteil von der Ahis­torizität der osteuropäischen Rechtskultur entgegen, das damit begründet wird, es habe keine Rezeption des römischen Rechts gegeben. Maksimovič stellt eindrucksvoll dar, dass das römische Recht sehr wohl und seit sehr langer Zeit auf die Rechtskulturen des orthodoxen Europa eingewirkt hat, nur eben nicht als gelehrtes Recht über die Universitäten, sondern als dezentral, ohne institutionelle Strukturen vorgenommene Übersetzungen byzantinischer Praktikerhandbücher.

Übertrieben scheint die Aussage von Maksimovič, auch das russische Recht habe im 19. Jahrhundert als Modell für die Rechtsmodernisierung gedient (S. 31 f.). Das mag für die Peripherie des Zarenreichs stimmen, wo das russische Recht noch altertümlichere Gewohnheitsrechte ersetzte. Der Autor zitiert in diesem Zusammenhang kursorisch Georgien und intensiver Bessarabien, wobei er selbst beschreibt, wie die vielversprechenden und weit gediehenen bess­arabischen Anläufe zur Rechtsmodernisierung durch eine Kodifikation nach französischem Vorbild unter dem Druck der Russifizierung zugunsten der Einführung des deutlich rück­ständigeren russischen Rechts aufgegeben werden mussten. Dass die Zwangsrussifizierung aus rumänisch-bessarabischer Sicht als Rückschritt und nicht als ‚Modernisierung‛ empfunden wurde, betont auch der folgende Beitrag von Bocşan zu Rumänien. Bleibt die von Maksimovič zitierte Rezeption russischen Straf- und Zivilverfahrensrechts in Bulgarien. Dies ist tatsächlich ein Beispiel dafür, dass auch russisches Recht dem Ausland als Vorbild bei Rezeptionen mit Modernisierungsabsicht gedient hat; dass allerdings das von Bulgarien rezipierte russische Verfahrensrecht seinerseits auf der russischen Rezeption französischen Rechts beruhte, verschweigt der Autor. Berechtigt ist allerdings das Grundanliegen von Maksimovič, Abschied zu nehmen von der klischeehaften Fixierung auf eine alleinige West-Ost-Fließrichtung von Modernisierung im 19. Jahrhundert.

Auf diese Grundlegung zur Rolle des römischen Rechts in Osteuropa folgen Länderberichte, die die Bedingungen und Prozesse der Rezeption westeuropäischen Rechts und Rechtsdenkens während des ‚langen 19. Jahrhunderts‛ in jeweils einem Land darstellen: Rumänien (M.-D. Bocşan), Kroatien (D. Čepulo), Montenegro (B. Djuricin), Ungarn (K. Gönczi), Bulgarien (M. Karagjozova-Finkova, C. Takoff), Russ­land (S. Krjukova), russische Ostseeprovinzen (M. Luts), Serbien (S. Šarkić), böhmische Länder (P. Skřejpková), Griechenland (M. Tsa­pogas) und Polen (W. Witkowski, A. Wrzyszcz); für eine vollständige Bestandsaufnahme fehlen mithin nur Albanien, Bosnien-Herzegowina, Finnland, Makedonien und Slowenien.

Die einzelnen Beiträge setzen unterschiedliche Schwerpunkte. Einige erzählen die Gesetzgebungsgeschichte unter dem Gesichtspunkt einer Rezeptionsgeschichte nach, während andere sich mit den Grundlagenfragen von „Modernisierung“ und „Kodifikation“ im Kontext ihres jeweiligen Landes befassen. Zu letzteren gehört v.a. die Darstellung zu Russland von Krjukova, die u.a. untersucht, was „Kodifikation“ spezifisch für das russische Recht und seine Geschichte bedeutet (S. 147150). In Bezug auf die vielfach als Keimzelle russischer rechtsstaatlicher Traditionen gepriesene Justizreform von 1864 weist sie mit eindrucksvollem statistischen Material nach, dass deren Institutionen an 90 % der Bevölkerung vorbeigingen, v.a. an den Bauern und den Völkern der Peripherie (S. 154). Beeindruckend sind auch die Darlegungen zu der Rechtsferne und Willkürgeneigtheit der Bauerngerichte, die immerhin 80 % aller anfallenden Rechtssachen verhandelten (S. 154156). Die halbherzigen Versuche, modernes Recht zu oktroyieren, mussten nach Ansicht der Autorin scheitern, weil die gesellschaft­lichen Verhältnisse sich nicht entsprechend fortentwickelten. Der Schlussbeitrag des Herausgebers konzeptionalisiert die Ergebnisse der „Modernisierung durch Rechtstransfer“ v.a. als Verlust indigener Traditionen.

Dass die Länderberichte von Autorinnen und Autoren aus den jeweiligen Ländern verfasst wurden, hat den Vorteil, dass mit der Materie besonders vertraute Bearbeiter gewonnen werden konnten. Diese nehmen naturgemäß eine ‚nationale‛ Perspektive ein, was manchmal zu Widersprüchen zwischen zwei Berichten führt, etwa in der bereits zitierten Bewertung der zwangsweisen Russifizierung des Rechts in Bessarabien im frühen 19. Jahrhundert. Aufschlussreich sind auch terminologische Abweichungen, z.B. in der Bezeichnung der österreichischen Zwangsherrschaft in den nichtdeutschen Teilen der Monarchie nach 1849. Während der kroatische Beitrag von „falscher Verfassungsstaatlichkeit“ für die Jahre 18491851 und von „Bach-Absolutismus“ für die Jahre 18521859 spricht (S. 57), wird die Zeit von 1849 bis 1861/67 in dem ungarischen Beitrag ohne Binnendifferenzierung als „Neoabsolutismus“ bezeichnet (S. 111). Derartige Widersprüche und Abweichungen öffnen gerade dem westlichen Leser den Blick auf Kontroversen und tun dem Sammelband daher gut.

An manchen Stellen weist die Transliterierung von Ausdrücken aus dem Kyrillischen unerklärliche Fehler auf; so ist etwa auf S. 29 anstelle des Kiewer Rus’ vom Kiever Ruš die Rede, und an derselben Stelle wird cerkovnych mit tserkovnych wiedergegeben. Vollkommen unverständlich in einem Werk mit wissenschaftlichem Anspruch ist, dass kyrillische Titel nicht transliteriert, sondern transkribiert werden, und das auch noch fehlerhaft – so geschehen z.B. bei der bulgarischen Bibliographie (S. 143) oder den russischen Werken zum baltischen Recht (z.B. S. 183). Derartige Fehler hätte ein sorgfältiges Lektorat vermeiden können.

Abgesehen von diesen redaktionellen Mängeln bietet der Sammelband eine umfassende, anschauliche, sowohl für Rechtswissenschaftler als auch für Vertreter anderer Disziplinen interessante Darstellung der Bemühungen um die Schaffung eines ‚modernen‛ Rechts in der östlichen Hälfte unseres Kontinents während des ‚langen 19. Jahrhunderts‛.

Herbert Küpper, Regensburg

Zitierweise: Herbert Küpper über: Tomasz Giaro (Hrsg.): Modernisierung durch Transfer im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Vittorio Klostermann Verlang Frankfurt a.M. 2006. 344 S. = Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfer, 1. ISBN: 3-465-03489-9., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 434-435: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kuepper_Giaro_Modernisierung_Transfer.html (Datum des Seitenbesuchs)