Claudia Weiss Wie Sibirien „unser“ wurde. Die Russische Geographische Gesellschaft und ihr Einfluss auf die Bilder und Vorstellungen von Sibirien im 19. Jahrhundert. Verlag V&R unipress Göttingen 2007. 261 S., 21 Abb. ISBN: 3-89971-375-3.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sibirien ist unter anderem deshalb so interessant, weil über Stellenwert und Bedeutung dieses räumlichen Konstrukts für das Russländische Imperium zeitgenössisch wie in den Wissenschaften immer wieder nachgedacht worden ist. Die Studie von Claudia Weiss widmet sich einerseits diesen Konstruktionsverfahren, indem sie mit der Russischen Geographischen Gesellschaft und insbesondere ihrer Sibirischen Zweigstelle in Irkutsk eine Organisation in den Mittelpunkt ihres Buches rückt, die dieses Verfahren aktiv betrieb. Andererseits stellt die Verfasserin über diese Organisation den Anschluss an die imperiale Geschichte her, die derzeit Konjunktur hat. Man wird die Arbeit durchaus als Erweiterung der Studien Mark Bassins lesen dürfen.

Weiss nimmt die Russische Geographische Gesellschaft aus fünf Perspektiven in den Blick: Sie betrachtet sie erstens als Ort der Soziabilität, an dem sich Personen zusammenfanden, die zunächst an der „reinen“ Wissenschaft interessiert waren, sich aber bald einen imperialen Auftrag zumaßen, der bei manchen durchaus eine russisch-nationale Wendung nehmen konnte. Die Darstellung des Personenkreises, der über Macht und Herrschernähe verfügte, gibt anschauliche Aufschlüsse darüber, wie im nikolaitischen Zarenreich politische Meinungsbildung über eine Versammlungsöffentlichkeit funktionierte.

Die Autorin untersucht zweitens die Expansion am Amur und die damit verbundene „Große Sibirienexpedition“, die dieses Unternehmen wissenschaftlich flankierte; deren Beschreibungen trugen aber bereits den umstrittenen Diskurs über das Potential Sibiriens und des Fernen Ostens für die „Zukunft“ Russlands in sich.

Daraus folgend zeigt die Arbeit drittens, dass die Russische Geographische Gesellschaft durchaus zum Ort abweichender Gedankenmodelle werden konnte. In Auseinandersetzung mit den imperialen Zielsetzungen der Gesellschaft entwickelte sich ein Sibiriendiskurs, der das „Eigene“ in Abgrenzung zu Russland zu konstruieren versuchte. Petr Kropotkin und Nikolaj Jadrincev dienen hier als die wesentlichen Beispiele.

Viertens verweist Weiss darauf, dass diese Meinungen aber nur von einer Minderheit der Aktivisten geteilt wurden. Nach dem Anschluss des Amur-Gebietes arbeiteten Petr Semenov und andere einflussreiche Vertreter der Gesellschaft wortgewaltig an der infrastrukturellen Erschließung Sibiriens, an deren Ende der Bau der Transsibirischen Eisenbahn stand.

Die fünfte Perspektive ist das internationale Wirken der Gesellschaft. Sie stand ja in Konkurrenz um Ansehen und Reputation mit der Royal Geographic Society und anderen. Zugleich war sie über ihre internationalen Ehrenmitglieder Ort der Vernetzung mit europäischen und amerikanischen Kommunikationszusammenhängen. Auch hier war für die Gesellschaft, dies arbeitet die Verfasserin deutlich heraus, die Kategorie des Prestiges handlungsleitend, wie die Präsentationen der russischen Pavillons auf den Weltausstellungen zeigte: Über Größe und Zukunftspotential Sibiriens wurde hier die Bedeutung des Zarenreiches als Imperium und Großmacht versinnbildlicht. Und von hier aus begann auch jene Flut von ausländischen Beschreibungen Sibiriens, die die Ambivalenzen des Raums als Faszinosum für eine internationale Öffentlichkeit beschrieben.

Das von Claudia Weiss umrissene Tableau liefert somit insgesamt eine Ergänzung zu den Arbeiten Anatolij Remnevs, der die administrative Durchdringung und die lokale Gesellschaft Sibiriens aufgearbeitet hat. Weiss hat gleichsam das Bindeglied zum imperialen Diskurs geliefert, der in St. Petersburg und Irkutsk gleichermaßen geführt wurde. Nach den Studien von Mark Bassin und Weiss wäre es nun wünschenswert, ähnliche Arbeiten auch für die anderen Zweigstellen der Russischen Geographischen Gesellschaft zu besitzen.

Jan Kusber, Mainz

Zitierweise: Jan Kusber über: Claudia Weiss: Wie Sibirien „unser“ wurde. Die Russische Geographische Gesellschaft und ihr Einfluss auf die Bilder und Vorstellungen von Sibirien im 19. Jahrhundert. Verlag V&R unipress Göttingen 2007. ISBN: 3-89971-375-3., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 2, S. 277-278: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kusber_Weiss_Wie_Sibirien.html (Datum des Seitenbesuchs)