Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Ausgabe: 59 (2011) H. 1
Verfasst von:Holger Kuße
Dmitrij Belkin „Gäste, die bleiben“. Vladimir Solov’ev, die Juden und die Deutschen. Philo EVA Europäische Verlagsanstalt Hamburg 2008. 424 S., Abb. ISBN: 978-3-86572-624-7.
Vorworte zu wissenschaftlichen Publikationen sind in der Regel für Rezensionen nicht von Belang. In diesem Fall ist es anders, denn Dmitrij Belkin, der 1994 von der Universität Dnepropetrovsk nach Tübingen kam, benennt hier seine Irritationen in den Paradigmen der deutschen Ideen-, Sozial- und Kulturgeschichte vor 15 Jahren. Er weiß also aus persönlicher Erfahrung, wovon er schreibt: von der Aufnahme und Rezeption des Anderen und bei den Anderen.
In der vorliegenden Studie ist das Zentrum, von dem aus sich Fremdes und Eigenes definiert, Vladimir Solov’ev. Es geht um Solov’evs Rezeption des Judentums (um dessen Gaststatus in seinem Werk) und um die Rezeption von Solov’ev in der deutschen Kultur, Philosophie und Theologie (in der der russische Philosoph bis heute ein bleibender Gast ist). So lauten die ersten beiden Teile des Buches: „Gastgeber: Die ‚jüdische Frage‘ im Russland Solov’evs“ (S. 50–164) und „Gast: Die Rezeption V. S. Solov’evs in Deutschland“ (S. 165–258). Ein systematischer Teil schließt sich an, der den Arten der Rezeption Solov’evs gewidmet ist, d.h. seinen Funktionen als Helfer in kulturellen Krisen oder als Lehrer in philosophisch-theologischen Neu- und Umorientierungen: „Lehrer und Arzt: Philosophie als Pädagogik und Medizin“ (S. 259–380). Auch dieser dritte Teil ist rezeptionsgeschichtlich ausgerichtet, so dass mit dem Buch eine umfängliche und facettereiche Darstellung der russisch-jüdischen und deutschen Solov’ev-Rezeption vorliegt.
Der Verfasser macht bisher unveröffentlichte Archivmaterialien zugänglich: zum Beispiel die Versuche von Fajvel’ Grec, Lev Tolstoj zur Unterstützung von Solov’evs „Protest gegen die antisemitische Bewegung in der russischen Presse“ zu gewinnen (S. 127ff.). Belkin erschließt mit diesen Materialien die ganze Problematik der „jüdischen Frage“ im Russland des 19. Jahrhunderts und Solov’evs Rolle, dessen Verteidigung des Judentums für das russische philosophische Denken von entscheidender Bedeutung wurde. Es konnte unter seinem Einfluss nicht mehr in Antisemitismus ‚umkippen‘, auch wenn berüchtigte Antisemiten wie der Verfasser der „Protokolle der Weisen von Zion“, Sergej Nilus, den Apokalyptiker Solov’ev, insbesondere seine „Kurze Erzählung vom Antichristen“, für sich zu vereinnahmen suchten (S. 287–289).
Im zweiten und dritten Teil verfolgt der Verfasser mit detaillierter Quellenkenntnis die Entwicklung der deutschen Solov’ev-Rezeption von den Promotionen russischer Autoren in Deutschland (Tumarkin, Usnadze und besonders Fedor Stepun), die Solov’ev im Kontext von Neukantianismus und Phänomenologie behandelten, über die mystifizierende Rezeption in der Anthroposophie bis hin zur Rolle Solov’evs als Stichwortgeber in der inter- und überkonfessionellen Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg. Unverständlich ist, warum hier wesentliche wissenschaftliche Arbeiten zu Solov’ev im deutschsprachigen Raum nicht oder nur am Rande Erwähnung finden: Helmut Dahm Solov’ev und Scheler (1971), Ludwig Wenzler Die Freiheit und das Böse nach Vladimir Solov’ev (1978), Martin George Mystische und religiöse Erfahrung im Denken Vladimir Solov’evs (1988). Vielleicht hängt die Distanz gegenüber diesen Arbeiten indirekt mit einer strittigen Einschätzung der Rolle Solov’evs in der russischen Philosophie zusammen, zu welcher der Verfasser in der ansonsten präzisen und lesenswerten Einleitung kommt. Für Belkin ist Solov’ev das Ende „originellen russischen Philosophierens“ (S. 31). Das unterschätzt die wirkungsgeschichtliche Bedeutung Solov’evs ebenso wie die eigenständige Entwicklung russischen philosophischen Denkens zur Dialog- und Kommunikationsphilosophie (u.a. Losev, Frank, Berdjaev), deren Wert und zukünftige Bedeutung noch gar nicht erschlossen ist.
Kein Buch kann alles bringen. Belkins Studie ist für die Rezeptionsgeschichte ohne Zweifel das, was man einen ‚Meilenstein‘ nennen darf. Deshalb ist eines besonders störend, was dem Autor nicht anzulasten ist und ihn vermutlich genauso ärgert wie den Leser: die miserable Qualität der Abbildungen. Sie sind keine Empfehlung für den Verlag, der in Zukunft hoffentlich mehr Sorgfalt auf die Ausstattung seiner Publikationen legen wird – besonders, wenn es sich um so wichtige Veröffentlichungen handelt wie Dmitrij Belkins „Gäste, die bleiben“.
Holger Kuße, Dresden
Zitierweise: Holger Kuße über: Dmitrij Belkin: „Gäste, die bleiben“. Vladimir Solov’ev, die Juden und die Deutschen. Philo EVA Europäische Verlagsanstalt Hamburg 2008. ISBN: 978-3-86572-624-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kusse_Belkin_Gaeste_die_bleiben.html (Datum des Seitenbesuchs)
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