Anna Shternshis Soviet and Kosher. Jewish Po­pular Culture in the Soviet Union, 1923–1939. Indiana University Press Bloomington, IN 2006. XXIII, 252 S., Abb.

„Ich zeige Ihnen wie man Schweinefleisch koscher zubereitet; das ist ganz einfach.“ Mit dieser Aussage einer 82-jährigen sowjetjüdischen Emig­rantin in New York beginnt Anna Shternshis ihre spannende Untersuchung zum Selbstver­ständnis des sowjetischen Judentums, das we­niger auf religiösen als auf nationalen Konzepten beruht und seine Wurzeln in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hat. Shternshis gehört zu jener jungen Generation von Historikern, die in den letzten zehn Jahren eine grundlegend neue Sicht auf die sowjetjü­dische Geschichte der Zwischenkriegszeit ent­wickelt haben. Während Denkel-Chen, Shneer und Veidlinger sowjetisches Archivmaterial aus­werteten, stützt sich Shternshis auf über 200 Interviews von Personen, die zwischen 1906 und 1930 geboren wurden und heute in Russland, Deutschland und vor allem in den USA leben. Eines ihrer größten Verdienste besteht darin, diese Erinnerungen gleichsam noch im letzten Moment aufgezeichnet zu haben, ehe man sich nur mehr auf publizierte Memoiren und andere gedruckte Quellen stützen kann, die sie natür­lich ebenfalls berücksichtigt.

In den bisherigen Darstellungen des sowjetischen Judentums der Zwischenkriegszeit dominiert die Geschichte der Institutionen und ihrer Ak­teure beziehungsweise einzelner diskriminier­ter Personengruppen (z.B. Religiöse, Zionisten). Shternshis untersucht hingegen die Wirkung des sowjetischen Nationsbildungsprozesses auf die breite Masse der jüdischen Bevölkerung. Sie analysiert den Einfluss von sowjetjüdi­schen Zeitungen, Büchern, Theateraufführungen, Liedern, Filmen und Festveranstaltungen auf jene Juden, die damals ihre Kindheit oder Ju­gend erlebten.

Shternshis zeigt schlüssig, dass die im Westen vor allem in der Zeit des Kalten Kriegs übliche ausschließlich negative Darstellung der sowjetischen Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung nicht haltbar ist. Ein Großteil der einfachen Leute akzeptierte die antireligiöse Propaganda als Teil des Deals, mit dem Juden Aufstiegschan­cen bekamen und der Antisemitismus aktiv be­kämpft wurde, traditionelle jüdische Konzepte hin­gegen aufgegeben werden mussten. Außerdem bezeugen die Interviewpartner den ungeheuer großen Pragmatismus unter der breiten Be­völkerung. Jugendliche traten dem Komsomol zum Beispiel oft nicht aus ideologischen Grün­den bei, sondern weil die Mitgliedschaft be­rufliche Aufstiegschancen und soziale Kontakte ermöglichte.

Ähnlich verhielt es sich auch mit anderen Einrichtungen der sowjetischen Alltagskultur, wie et­wa der Arbeiterkorrespondentenbewegung oder dem Laientheater, durch die plötzlich jeder und jede zum Starjournalisten oder Bühnenstern­chen avancieren konnte. Doch so bedeutsam die Arbeiterkorrespondentenbewegung für die Etablierung eines jiddischen Sprachbewusst­seins und den Beginn so mancher literarischer Kar­riere war, so schnell wurden diese Amateur-Autoren in den dreißiger Jahren zu den Augen und Ohren des Systems. Eine ähnliche Ambivalenz zeichnet die Theaterschauprozesse auf den Pro­vinzbühnen aus. Das Publikum musste vom „Staatsanwalt“ überzeugt werden, dass sich religiöse Rituale, politische oder religiöse Instituti­o­nen und im Extremfall auch gespielte Einzelpersonen antisowjetischer Vergehen schuldig ge­macht hatten. Zu den echten Schauprozessen der dreißiger Jahre war es dann nur mehr ein klei­ner Schritt.

Trotz ihres durch die Sowjetunion geprägten Den­kens lässt sich bei den interviewten Personen eine gewisse Nostalgie zur religiösen Tradition oder zum Schtetl erkennen, auch wenn sie bei­des selbst nie wirklich kannten. Shternshis er­klärt das damit, dass die jüdische Stadtbevölkerung der Zwischenkriegszeit die überwiegend jid­dischsprachige antireligiöse Propaganda kaum las, sondern eher russischsprachige Publika­tionen heranzog, die eigentlich für das russische Publikum gedacht waren und die im Kampf gegen den Antisemitismus ein tendenziell positives Bild des Judentums zeichneten. Die­se Sichtweise prägte das Selbstverständnis einer ganzen Generation, die auch in den Jahrzehnten des offiziösen Antisemitismus nach 1945 ein ausgeprägtes jüdisches Bewusstsein be­wahrte. Für diese Leute war nicht das religiöse Bekenntnis oder die Einhaltung der Kaschrut Merkmal ihrer Identität, sondern eher, eine russische Ausgabe von Scholem Alejchem zu besit­zen, die sowjetjiddische Zeitschrift „Sovetiš hejm­land“ abonniert zu haben, oder Fan von po­pu­lären Liedermachern jüdischer Herkunft zu sein. Diese unterschiedlichen Zugänge führen bis heute zu Missverständnissen zwischen Juden aus Ost und West über ein vermeintlich „koscheres“ Judentum.

Börries Kuzmany, Wien

Zitierweise: Börries Kuzmany über: Anna Shternshis Soviet and Kosher. Jewish Po­pular Culture in the Soviet Union, 1923–1939. Indiana University Press Bloomington, IN 2006. ISBN: 978-0-253-21841-4, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kuzmany_Shternshis_Soviet_and_Kosher.html (Datum des Seitenbesuchs)