T. V. Čumakova (otv. red.) Čelovek verujuščij v kul’ture Drevnej Rusi. Materialy meždu­na­rodnoj naučnoj konferencii 5–6 dekabrja 2005 goda [Der gläubige Mensch in der Kultur der Alten Rus’. Materialien zur Internationalen wissenschaftlichen Konferenz vom 5.-6. Dezember 2005]. Izdat. Lema S.-Peterburg 2005. 251 S.

Zu den wichtigsten Aufgaben des Herausgebers eines mit bescheidenen Druckkosten publizierten Sammelbandes einer postsowjetischen wissenschaftlichen Konferenz gehört, wie man aus eigener Erfahrung weiß, nicht nur das konsequente Korrigieren der Druckfehler, sondern auch die gnadenlose Entfernung der politisch und konfessionell unkorrekten‛ Äußerungen oder im schlimmsten Fall der gesamten entsprechenden Texte. Gerade bei der Erfüllung dieser beiden Aufgaben blieben die Erfolge Tat’jana V. Čumakovas, der Herausgeberin des Sammelbandes, der die Beiträge der Konferenz vereinigt, die in St. Petersburg im Dezember 2005 stattfand, sehr bescheiden. Dies ist besonders zu bedauern, weil eine Minderheit der im Sammelband veröffentlichten Abhandlungen durchaus interessante und neue Forschungsergebnisse bringt. Daneben ist aber auch ein Dutzend Aufsätze abgedruckt, deren Niveau erheblich niedriger ist. Eine dritte Gruppe bilden Arbeiten, die in einer wissenschaftlichen Publikation überhaupt keinen Platz finden sollten. Diese drei Gruppen wollen wir in der Buchbesprechung nacheinander betrachten.

Den Kern der ersteren Gruppe von Abhandlungen bilden Vorträge, die den religiösen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhundert gewidmet sind. Tat’jana A. Oparina rekonstruiert den Le­bensweg des Erzpriesters Ivan Neronov, eines der Gründerväter des Altgläubigentums. A. V. Morochin untersucht den Personenkreis, in dem der zukünftige Patriarch Nikon verkehrte, als er noch im Bezirk von Nižnij Novgorod weilte. Damit bestätigt sich noch einmal, dass die Entstehung des Altgläubigentums eines der wichtigsten Themen der heutigen russischen Religionsgeschichtsschreibung darstellt. L. B. Su­ki­na untersucht den Zusammenhang zwischen Frömmigkeit und Kirchenbau im Moskauer Reich. Ihre Darstellung der Konkurrenz zwischen dem zarischen Bauprogramm und den privaten Kirchenbauten der Moskauer Aristokraten in der Zeit Ivan Groznyjs steht in Einklang mit der gegenwärtigen Forschung. Die Be­merkungen von Oleg Ul’janov über den theo­logischen Kontext der Dreifaltigkeitsikone Andrej Rublevs sind interessant, aber nicht einwandfrei (S. 88–99). Alle diese Beiträge hätten zusammen einen guten Sammelband gefüllt, und es ist bedauerlich, dass die Herausgeber die Illustrationen weggelassen haben, nicht aber die Gruppe der unten zu besprechenden Arbeiten.

Die zweite Gruppe von Texten bildet die Mehrheit der in dem Sammelband abgedruckten Vorträge. Die Autoren sind entweder Historiker oder Philosophen. Trotz der unterschiedlichen disziplinären Ansätze kann man einige gemeinsame Züge erkennen. Erstens sind den Autoren sowohl die Begriffsgeschichte als auch der linguistic turn fremd geblieben. So analysiert Tat’jana V. Čumakova die altrussischen Vorstellungen über die Arbeit (trud) auf der Grundlage der sogenannten „synodalen Übersetzung“ der Bibel ins Russische und nicht etwa des kirchen­sla­wischen Textes, z.B. der Bibel von Ostroh, deren Text auch im Internet zugänglich ist (S. 196–200). Auf die gleiche Weise verfahren auch die anderen Autoren des Sammelbandes. Zweitens wird nicht nur die neuere nichtrussische Forschung ignoriert, sondern dies widerfährt auch Büchern und Aufsätzen, die auf Russisch veröffentlicht wurden. So untersucht P. I. Gaj­denko die Kirchenpolitik der Söhne Jaroslavs des Weisen, ohne die klassische Abhandlung von Andrzej Poppe oder das gerade er­schienene Buch von Denis Chrustalev zu zi­tie­ren (A. Pop­pe Russkie mitropolii konstantinopol’­skoj patriarchii v XI stoletii, in: Vizantijskij vremen­nik 28 [1968] S. 85–108; 29 [1968/69] S. 95–104; Denis G. Chrustalev Razyskanija o Efreme Pe­re­jaslavskom. S.-Peterburg 2002) (S. 160–167). Als in dieser Hinsicht kaum zu übertreffen erscheint die Abhandlung von A. G. Ber­man, welche die Verbindungen zwischen der asketischen Bewegung der Messalianen, den byzantinischen Hesychasten, den Bogomilen, den altrussischen Besitzlosen und den russischen Sekten zum Gegenstand hat (S. 174–177). Die Ergebnisse der internationalen Forschung über jede dieser Glaubensrichtungen sind ihm dabei vollkommen unbekannt geblieben. Drittens ist das nur schwache oder ganz fehlende Interesse an den Theorien der Religionswissenschaft zu bedauern. Von den Klassikern der Religionswissenschaft wird nur der umstrittene Mircea Eliade zitiert (S. 147, 227), aber kein moderner Religionssoziologe. Deswegen versuchen einige Autoren, neue Probleme mit den alten, aus der sowjetischen Historiographie ererbten Begriffen anzugehen. Was dabei herauskommt, zeigt beispielhaft die Abhandlung von A. V. Karpov über die Christianisierung der alten Rus’, in der der Verfasser zwischen einer Christianisierung „von unten“ und einer Christianisierung „von oben“ unterscheiden will (S. 165).

Hinzu kommen noch ungefähr drei Vorträge, die die dritte Gruppe bilden. Unter dem Titel „Russisches religiös-philosophisches Denken über den Protestantismus“ veröffentlicht V. N. Ero­chin eine antiprotestantische Predigt, die mit zahlreichen, in der Forschung wohlbekannten Ste­reotypen konfessioneller Polemik geschmückt ist (S. 229–230). Im Vortrag von M. L. Chižij, welcher der kirchlichen Predigt und der Propaganda der Schwarzen Hundertschaften in den Jahren 1905–1909 gewidmet ist, wird vom „direkten Druck […] der jüdischen finanziellen Lobby […] auf die russische Regierung“ und von „jüdischen Sozialisten“ ge­spro­chen (S. 178, 180). Solche Vorträge haben in einer wissenschaftlichen Publikation nichts zu suchen.

Was ist darüber hinaus noch zu sagen? In der neuen russischen Forschung kommt die Buchbesprechung in Mode. Anders als in den Besprechungen der sowjetischen Zeit versucht man, das Buch auf zwanzig oder dreißig Seiten zu analysieren, wobei auch die Druck- und die kleinsten Sprachfehler aufgezählt werden. Besonders beliebt sind vergessene diakritische Zei­chen in griechischen Zitaten. Für einen solchen postsowjetischen Perfektionismus bietet „Der gläubige Mensch in der Kultur der Alten Rus’“ reiche Beute. Man kann z.B. darauf hinweisen, dass ein „Vlach“ in den altrussischen Quellen nicht ein „Bulgare“ ist, wie E. A. Ti­to­va meint, sondern ein Vertreter der romanischsprachigen Bevölkerungsgruppe, und dass das Kloster Neamţ (Njameckij) sich nicht in Serbien befindet, sondern im heutigen Rumänien (S. 128). Die Bezeichnung „Troice-Sergieva lav­ra“, die A. M. Rochlina in Bezug auf das Mit­telalter verwendet (S. 149) macht keinen Sinn, weil dem Kloster die Würde einer lavra erst durch Kaiserin Elizaveta Petrovna verliehen wurde. Der byzantinische Kanonist Matthaios Blas­tares schrieb seine Syntagma nicht im 15. Jahrhundert, wie E. O. Kalmykova behauptet (S. 195), sondern um 1355.

Die Texte der in dem Sammelband veröffentlichten Beiträgen sind übrigens auch im Internet unter der Adresse „www.drevnerus.narod.ru“ zu finden.

Aleksandr Lavrov, Paris

Zitierweise: Aleksandr Lavrov über: T. V. Čumakova (otv. red.): Čelovek verujuščij v kulture Drevnej Rusi. Materialy meždunarodnoj naučnoj konferencii 5–6 dekabrja 2005 goda [Der gläubige Mensch in der Kultur der Alten Rus. Materialien zur Internationalen wissenschaftlichen Konferenz vom 5.-6. Dezember 2005]. Izdat. Lema S.-Peterburg 2005. ISBN: 5-98709-013-X, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 600-601: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Lavrov_Cumakova_Celovek_verujuscij.html (Datum des Seitenbesuchs)