Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 475-477

Verfasst von: Stefan Lehr

 

Hilmar Preuß: Vorläufer der Intelligencija?! Bildungskonzepte und adliges Verhalten in der russischen Literatur und Kultur der Aufklärung. Berlin: Frank & Timme, 2013. 425 S., 37 Abb. = Ost-West-Express. Kultur und Übersetzung, 18. ISBN: 978-3-86596-547-9.

Preuß untersucht in seiner Hallenser Dissertation am Beispiel von acht renommierten russischen adeligen Schriftstellerinnen und Schriftstellern (Aleksandr Sumarokov, Ekaterina Daškova, Marija Suškova, Nikolaj Novikov, Denis Fonvizin, Aleksandr Radiščev, Michail Murav’ev, Nikolaj Karamzin) deren Vorstellungen über Bildung und Erziehung sowie ihre Auffassung vom Beruf des Schriftstellers in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Er möchte sowohl Bildungstypen als auch kulturelle Verhaltensmuster erforschen. Der Autor fragt, wie sich gebildete Adlige im Spannungsfeld von europäischer Aufklärung und russischer Tradition in einer Umbruchszeit konkret verhielten. In separaten Kapiteln stellt Preuß jeweils eine der acht Personen vor. Dabei werden zunächst Bildungsweg, Sozialisation und Lebensweg geschildert. Im zweiten Teil folgt dann eine Analyse von ausgewählten Publikationen, in denen die Autorinnen und Autoren ihre Bildungsvorstellungen äußern. Eine Fokussierung auf diese Aspekte und für mehrere Personen stellt in der Forschung ein willkommenes Novum dar. Preuß knüpft insbesondere an Jurij Lotmans kultursemiotischen Zugang und Viktor Živovs exemplifizierte Analyse von Biographien russischer Dichter an. Die behandelten Personen sind in der Forschung bekannt, und es liegen bereits umfangreiche historische sowie literatur- und kulturwissenschaftliche Arbeiten zu ihren Biographien sowie ihren publizistischen und aufklärerischen Aktivitäten vor, auf die sich der Autor stützt.

Das Herrscherhaus stand mehreren der behandelten Personen aufgrund ihrer kriti­schen Publikationen zumindest zeitweise reserviert gegenüber, einige wurden sogar verfolgt (Novikov, Radiščev). Mehrere von ihnen schlugen mit ihrer schriftstellerischen und publizistischen Tätigkeit für die damalige Zeit untypische Lebenswege ein. Sie sahen ihren Wunsch, sich ausschließlich dem Beruf des Schriftstellers zu widmen, mit der vorherrschenden Vorstellung konfrontiert, wonach eine solche Tätigkeit im Hauptberuf für Adelige nicht angemessen sei. Preuß zeigt in diesem Zusammenhang einen deutlichen Wandel auf: Während es dem Satiriker Sumarokov in den 1760er/70er Jahren noch nicht gelang, die erstrebte unabhängige und sozial anerkannte Stellung als Schriftsteller zu erhalten, konnte sich Karamzin, der als Autor seiner Reiseberichte und späterer Hofhistoriograph bekannt wurde, in den 1790er Jahren bereits mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit behaupten. Die ausschließliche Ausrichtung auf das schriftstellerische Dasein erwies sich jedoch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als problematisch.

Einige der behandelten Autoren etwa Sumarokov, Daškova und Fonvizin grenzten sich in ihren Satiren, Aufsätzen und Komödien von der zeittypischen Gallomanie ab. Sie waren sich darin einig, dass der Adel durch Bildung zu einer Funktionselite werden sollte, und beklagten die unzureichende Ausgangslage des staatlichen Bildungssystems. Zugleich befürworteten die Autoren die Pflege der russischen Sprache und Kultur, ohne sich dabei aber von ausländischem Gedankengut abzuschotten. Preuß zeigt an vielen konkreten Beispielen der Textanalyse, wie westliche kulturelle, insbesondere aufklärerische Einflüsse rezipiert und an die russischen Verhältnisse angepasst wurden. Zudem deckt er durch die Verknüpfung von Beschreibungen der Lebenswege mit der Analyse der Publikationen autobiographische Bezüge in den Texten auf.

Die biographischen Einzelstudien verdeutlichen im Falle der Fürstin Ekaterina Daškova ihre besondere Stellung als Frau in der damaligen Zeit. Als Präsidentin zweier Akademien prägte sie durch ihre Veröffentlichungen und durch die vorbildliche Erziehung, die sie ihrem Sohn gab, den Bildungsdiskurs stark mit. Wie auch andere Autoren sprach sie sich für ein Universitätsstudium des russischen Adels aus. Daškova verband als Autorin und Bildungspolitikerin mehrere Funktionen in ihrer Person. In ähnlicher Situation plädierte auch Michail Muravev für eine aufgeklärte Bildung; er war bemüht, das Prestige der Gelehrten und Schriftsteller in der Adelsgesellschaft zu steigern. Der Komödienautor Denis Fonvizin regte entgegen der vorherrschenden Praxis an, dass gebildete Adelige selbst als Erzieher junger Adeliger wirken sollten. Marija Suškova zeichnete sich dadurch aus, dass sie auch noch nach Eheschließung und Geburt der Kinder publizistisch tätig war, was zu jener Zeit in Russland noch als Bruch der Konventionen angesehen wurde. Am Beispiel des Freimaurers Nikolaj Novikov, der seine publizistischen und verlegerischen Aktivitäten dem Staatsdienst vorzog, zeigt Preuß, wie westliche Texte für den russischen Leser adaptiert und transformiert wurden. In Aleksandr Radiščev, der in Leipzig studiert hatte und als Autor der Reise von Petersburg nach Moskau bekannt wurde, sieht Preuß zu Recht einen Vorläufer der Intelligencija des 19. Jahrhunderts.  

Ein Manko für den des Russischen nicht kundigen Leser ist es, dass die zahlreichen russischen Textfragmente und Zitate nur sehr selten im Text oder zumindest in den Fußnoten übersetzt werden, wobei auch unklar bleibt, nach welchem Prinzip der Verfasser hier verfährt. Preuß arbeitet bei der Analyse der Schriften sehr nahe am Originaltext, was dem Lesefluss nicht immer zuträglich ist. Mit Blick auf den Titel (Vorläufer der Intelligencija?!) verwundert es, dass der Autor Marc Raeffs zentrale Arbeit aus den 1960er Jahren Origins of the Russian Intelligentsia. The Eighteenth–Century Nobility völlig unberücksichtigt gelassen hat. Mehrere Fehler in der Zeichensetzung sind allem Anschein einem unzureichenden Lektorat des Verlages zuzuschreiben. Insgesamt hat Preuß jedoch mit seinem Buch über die literarische Erörterung von Bildungskonzepten und die Analyse der Verhaltenstypen mehrerer aufgeklärter russischer Adeliger eine wichtige und interessante Studie vorgelegt.

Stefan Lehr, Münster

Zitierweise: Stefan Lehr über: Hilmar Preuß: Vorläufer der Intelligencija?! Bildungskonzepte und adliges Verhalten in der russischen Literatur und Kultur der Aufklärung. Berlin: Frank & Timme, 2013. 425 S., 37 Abb. = Ost-West-Express. Kultur und Übersetzung, 18. ISBN: 978-3-86596-547-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Lehr_Preuss_Vorlaeufer_der_Intelligencija.html (Datum des Seitenbesuchs)

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