Frank Hadler, Mathias Mesenhöller (Hrsg.): Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa: Repräsentationen imperialer Erfahrung in der Historiographie seit 1918 / Lost Greatness and Past Oppression in East Central Europe: Representations of the Imperial Experience in Historiography since 1918. Akademische Verlagsanstalt Leipzig 2007. 324 S. = Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert, 8.

Einer der jüngsten Turns in der Geschichtswissenschaft, nämlich der imperiale, wirkt wie maßgeschneidert für Ostmitteleuropa und Südosteuropa. Jeder der jetzt dort vorhandenen Nationalstaaten blickt auf eine mehr oder weniger lange Phase seiner Geschichte zurück, die von Imperien bestimmt war. Die „Repräsentation imperialer Erfahrung in der Historiographie“ dieser Länder ist das Thema des vorliegenden, in deutscher und englischer Sprache abgefassten Sammelbandes. Er fußt auf einer Konferenz des GWZO in Leipzig im Jahre 2004. Die Herausgeber Frank Hadler und Mathias Mesenhöller geben in ausführlichen „einleitenden Thesen“ das Ziel des Bandes an: Es gehe um „den erinnernden Umgang mit Imperialität als vergangener Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa“.

Die Frage, die hier behandelt wird, ist also die Geschichtsschreibung und im weiteren Sinn die Erinnerung in den Nachfolgestaaten über die Imperien, die zu unterschiedlichen Zeiten in Ostmitteleuropa (und Südosteuropa) wirksam waren: das „Dominium Maris Baltici“ Schwedens, Polen-Litauen, der Hohenzollernstaat, die Habsburgermonarchie, das Russische (Petersburger) Reich und das Osmanische Reich. Es ist den Herausgebern gelungen, erstrangige Autoren zu gewinnen; gleichwohl liegt auf der Hand, dass die Behandlung des historischen Blicks aus Nachfolgestaaten auf die früheren Imperien nicht flächendeckend sein kann.

Zunächst wird das „Baltic Empire“ Schwedens von Ragmar Björk im Spiegel der schwedischen Historiographie gesehen; Klaus Zernack beleuchtet die für die polnische Geschichte so wichtige polnische Perspektive des 20. Jahrhunderts; Ilgvar Misāns die lettische. Länger als die schwedische Periode dauerte in wei­ten Bereichen die des polnisch-litauischen Com­monwealth. Hier wird neben dem national-litauischen Gesichtspunkt (Jūratė Kiaupienė) die „Jagiellonische Idee“ in der Sicht des polnischen Historikers Oskar Halecki von Hans-Jürgen Bömelburg analysiert. Dem Osmanischen Reich gelten zwei unterschiedliche Beiträge: Géza Dávid und Pál Fodor zeigen die Differenzierung der ungarischen Osmanologie im 20. Jahrhundert, die etwa der Auseinanderentwicklung der Slawistik zu verschiedenen Spezialwissenschaften entspricht. Stefan Troebst hingegen weist aufgrund von jahrzehntelanger Vertrautheit die Spuren des Osmanischen Reiches im Alltagsleben von Mazedonien auf.

Von den an der Schwelle des Ersten Weltkrieges das östliche Europa beherrschenden großen Mächten wird zunächst die Hohenzollerndynastie im Spiegel der deutschen Geschichtsschreibung „zwischen Weimar und Bonn“ von Nicolas Berg behandelt; die Spiegelung in der polnischen historischen Kultur beleuchtet Markus Krzoska. Der Wandel der Narrative der Habsburgermonarchie wird aus österreichischer Sicht (nach 1918) von Werner Suppanz beobachtet, aus ungarischer von Tibor Frank und aus slowakischer von Elena Mannová. Das Petersburger Imperium schließlich wird in seiner Abbildfunktion in der Zweiten polnischen Republik von Rafał Stobiecki beleuchtet und die „russische Periode in der estnischen Geschichtsschreibung seit 1918 von Mati Laur.

Aus der Lektüre dieses Bandes wird klar, wie weit in verschiedenster Weise man sich bereits in den unmittelbaren und mittelbaren Nach­folgestaaten der Imperien von der simplen Narration der Staatsgründungszeit entfernt hat, man habe soeben eine mehr oder weniger lange „Fremdherrschaft“ abgeschüttelt und damit endlich die dermaleinst verlorene Freiheit wieder erlangt.

Das hier entwickelte Bild ist weit komplizierter: es gibt Konkurrenzen von Imperien-Feindbildern (z.B. für Ungarn das Osmanische oder das Habsburgerreich), also „Doppel­rol­len“, bei denen die vergangene Imperien gegeneinander ausgespielt werden können; es gibt die „Selbstviktimierung“, aber auch die Möglichkeit zur Umdeutung früherer Imperien auf die eigene moderne nationale Identität (osmanisch zu türkisch, Habsburgerreich zu Österreich, Jagiellonenreich zu Polen oder zu Litauen). Das Bewusstsein der Größe der eigenen modernen Nation erschien oft nur durch den Brückenschlag aus der eigenen Gegenwart über die „dunkle“, oft Jahrhunderte dauernde Epoche einer imperialen „Fremdherrschaft“ hinweg in eine vermeintlich „große“ Vergangenheit der eigenen Nation möglich, eine der üblichen Konstruktionen für die „Erfindung“ der eigenen Nation.

Die vielfach im vorliegenden Band verfolgten Umdeutungen imperialer Vergangenheiten der jeweiligen Nationalgeschichten lassen sich, wie die Herausgeber nachweisen, an bestimmten Zäsuren im Lauf des 20. Jahrhunderts festmachen, die nicht unbedingt mit den großen Umbrüchen von 1918, 1945, 1989 u.a. identisch sein müssen, sondern auch „stille Zäsuren“ sein können, wie etwa die Neubewertung Preußens in Polen oder in beiden deutschen Staaten seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts.

Insgesamt also ein Sammelband, der nicht nur über Umwertungen nationaler Geschichtsbilder mit Blick auf vergangene imperiale Herrschaften berichtet, sondern auch zu deren Weiterführung anregt; die Entdeckung der historischen Wertigkeit der Imperien für die moderne Nationalstaatenwelt und ihre Erinnerungskultur bedeutet einen wichtigen Schritt zur Transzendierung der Ghetti nationaler Geschichtsbilder.

Hans Lemberg, Marburg/Lahn

Zitierweise: Hans Lemberg über: Frank Hadler, Mathias Mesenhöller (Hrsg.) Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa: Repräsentationen imperialer Erfahrung in der Historiographie seit 1918 / Lost Greatness and Past Oppression in East Central Europe: Representations of the Imperial Experience in Historiography since 1918. Akademische Verlagsanstalt Leipzig 2007. = Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert, 8. ISBN: 978-3-931982-52-2, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Lemberg_Hadler_Mesenhoeller_Vergangene_Groesse.html (Datum des Seitenbesuchs)