Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 59 (2011) H.4

Verfasst von: Otto Luchterhandt

 

Transnational Societies, Transterritorial Politics. Migrations in the (Post-) Yugoslav Region 19th–21st Century. Ed. by Ulf Brunnbauer. München: R. Ol­den­bourg, 2009. 328 S., Abb., Tab., Ktn., Graph. = Südosteuropäische Arbeiten, 141. ISBN: 978-3-486-59163-7.

Der älteren Generation in (West-)Deutschland steht die Arbeitsmigration aus Jugoslawien in die Bundesrepublik während der 1960er Jahren noch aus eigener Anschauung vor Augen. Dass „Gastarbeiter“ aus einem kommunistischen Land kamen, nahm man seinerzeit nicht ohne Erstaunen zur Kenntnis, und es war wohl der sichtbarste Beleg dafür, dass sich die Staatsordnung Jugoslawiens deutlich vom Sowjetsystem der Warschauer-Pakt-Staaten unterschied, deren Bürger von den Reisemöglichkeiten der Jugoslawen in „den Westen“ nur träumen konnten. Fachhistoriker wussten freilich immer, dass die Arbeitsmigration aus der Balkan-Region bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht, schon in der Zwischenkriegszeit eine alltägliche Erscheinung war, sich der Zustrom von Arbeitskräften aus Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg also in einer geschichtlichen Kontinuität bewegte.

Wie der soeben in Berlin zu Ende gegangene 48. Historikertag gezeigt hat, sind nun, eine Generation nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des sowjetischen Hegemonialsystems, Migration und Transnationalität in Europa auch in Deutschland in den Mittelpunkt historischer Forschung gerückt. Davon zeugt auch das hier anzuzeigende, von Ulf Brunnbauer (Regensburg) herausgegebene Buch. Es vereinigt die Referate, die im Dezember 2006 in Berlin auf der internationalen Konferenz “(Post-) Yugoslav Migrations. State of Research, New Approaches, Comparative Perspectives“ gehalten worden waren. Die Konferenz war mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung vom Herausgeber und von der 2009 ums Leben gekommenen Spezialistin für albanische Geschichte, Georgia Kretsi, (damals beide FU Berlin) veranstaltet worden. Sie hatte erklärtermaßen das Ziel, die seit 1990 in sieben Nationalstaaten zerfallene Region Ex-Jugoslawiens als ein „Laboratorium historischer und gegenwärtiger Migrationsforschung“ zu perzipieren. Der Region gewidmete Fallstudien, so Brunnbauer in seinem Vorwort (S. 9), erlaubten es, alle mit Migration verbundenen brennenden Forschungsprobleme zu diskutieren transnationale Verknüpfungen, Diaspora-Nationalismus, Auswirkungen der Emigration auf die Heimatgesellschaften, Wirkungen von Emigrationspolitik, Nationsbildung, Wandel von Migrationsformen bzw. Migrationsmustern, und das alles in Langzeitperspektiven. Darauf gerichtete Forschungsarbeiten lieferten zugleich wichtige Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der Balkanregion selbst, in welcher es nicht nur Emigration, sondern auch Re-Emigration gab sowie mehr oder weniger enge Kontaktbeziehungen zwischen Heimat und nationalen Diasporastrukturen. Gerade dieses Phänomen war (und ist noch!) ein Faktor, der aus den sozio-ökonomischen und politischen Entwicklungen der Region nicht wegzudenken ist, und zwar umso weniger, als aus Ex-Jugoslawien stammende nationale Diasporagruppen teilweise schon über ein Jahrhundert auf ihre Heimatgesellschaften zurück- und einwirken.

Das Phänomen langanhaltender, stabiler Diaspora-Heimat-Beziehungen wird seit geraumer Zeit mit dem Konzept des Transnationalismus erforscht. In diese Forschungsrichtung wird der Leser vortrefflich durch den Aufsatz der Schweizer Migrationsforscherin Janine Dahinden eingeführt („Understanding (Post)Yugoslav Migration through the Lenses of Current Concepts of Migration Research: Migrant Networks and Transnationalism“, S. 251265).

Das Buch vereinigt 13 Beiträge, die den Gegenstand zunächst überwiegend historisch bzw. diachron angehen, nationale Migrationsgruppen im Weiteren aber auch mit einem primär sozialwissenschaftlichen, insbesondere „familiensoziologischen“ Ansatz behandeln. Für den – keineswegs nur auf die Geschichte Südosteuropas spezialisierten – Historiker sind folgende Beiträge von herausragendem Interesse: Marjan Drnovšek, Ljubljana: Fragments from Slovenian Migration History, 19th and 20th Centuries (S. 51–72); Edvin Pezo, Regensburg: ‚Re-Conquering‘ Space. Yugoslav Migration Policies and the Emigration of Non-Slavic Muslims to Turkey, 1918–1941 (S. 73–94); Aleksandar R. Miletić, Belgrad: (Extra-)Institutional Practices, Restrictions and Corruption. Emigration Policy in the Kingdom of Serbs, Croats, and Slovenes, 1918–1928 (S. 95–119); Karolina Novinšćak, Regensburg: The Recruting and Sending of Yugoslav ‚Gastarbeiter‘ to Germany: Between Socialist Demands and Economic Needs (S. 121–143); Dubravka Mlinarić, Zagreb: Emigration Research in Croatia: An Overview (S. 169191); Mirjam Milharčić Hladnik, Ljubljana: From a Dollar Bill in an Envelope to a Petition to the White House: The Significance of Slovenian Migrants for Those Back Home (S. 193–212).

Die Ursachen, Gründe und Motive für grenzüberschreitende Migration sind bekanntlich vielfältig und insgesamt sehr unterschiedlich. Im Falle der Region des ehemaligen Jugoslawien bildet aber traditionell die Arbeitsmigration den Schwerpunkt. Der Herausgeber hat daher diesen Aspekt für seine längere einleitende Abhandlung ausgewählt, die dem Buch einen gewissen Rahmen gibt und auch konzeptionelle Leitlinien markiert. Brunnbauer beschreibt den Wandel der Arbeitsmigration im geschichtlichen Längsschnitt eines Jahrhunderts. Zunächst entschieden sich die weitgehend aus der Landbevölkerung stammenden Migranten ganz überwiegend für die Auswanderung nach Amerika, wobei zu deren Kennzeichen gehörte, dass teilweise weit über die Hälfte der Auswanderer nach einigen Jahren in die Heimat zurückkehrte (S. 25). Nach dem Zweiten Weltkrieg löste Westeuropa, voran die Bundesrepublik Deutschland, die USA als Zielland „jugoslawischer“ Auswanderung ab. Den Zustrom von „Gastarbeitern“ bewirkten zum kleineren Teil Anwerbeaktionen; zum größeren Teil beruhte er auf Gesprächen und Erfahrungsberichten der Migranten selbst (S. 34f). Eine signifikante Rolle bei der Steuerung der Migration spielten transnationale, personelle Netzwerke.

Die Migranten rekrutierten sich aus allen Nationalitäten Jugoslawiens. Sie entwickelten wirtschaftlich motivierte „Migrationskulturen“ (S. 48), die sich bis in die Gegenwart als relativ stabil erwiesen haben. Die transnationale Dimension der Arbeitsmigration hat im Zerfallsprozess Jugoslawiens und in der Evolution seiner Teilrepubliken zu unabhängigen Nationalstaaten einen nationalpolitischen Akzent bekommen. Die Diasporen der Titularnationen wurden zu politischen Ressourcen der postkommunistischen Neustaatenbildung.

Im Allgemeinen weiß jeder, der sich wissenschaftlich mit Südosteuropa beschäftigt, um die besondere, große Bedeutung, welche die Migration in der bzw. für die Region besessen hat und weiter besitzt. Man denke nur an die Problematik der Bürgerkriegsflüchtlinge der 1990er Jahre. Das Verdienst Ulf Brunnbauers ist es, dass er diesem in nationaler und sozialer Hinsicht unendlich facettenreichen, hoch komplexen, in vieler Hinsicht diffusen und daher naturgemäß schwer überschaubaren Phänomen der Migration zu Leibe gerückt ist und mit einem brauchbaren methodologischen Instrumentarium für ein besseres, tieferes Verständnis des Publikums aufgeschlossen hat. Nicht nur für die mit Südosteuropa befassten Historiker und Migrationsforscher öffnet Brunnbauers Buch gute Zugänge zu einer für die Region Ex-Jugoslawiens und darüber hinaus besonders wichtigen Materie. Die Nützlichkeit des Buches für weitere, auch und gerade für vergleichende Forschungen wird durch zahlreiche Tabellen, Statistiken und nicht zuletzt eine ausführliche Bibliographie (S. 299–325) erhöht.

In Zeiten knapper Kassen muss man der Fritz Thyssen Stiftung besonders dankbar sein, dass sie dieses Projekt mitsamt der Veröffentlichung seines Ertrages gefördert und ermöglicht hat.

Otto Luchterhandt, Hamburg

Zitierweise: Otto Luchterhandt über: Transnational Societies, Transterritorial Politics. Migrations in the (Post-)Yugoslav Region 19th–21st Century. Ed. by Ulf Brunnbauer. München: R. Oldenbourg, 2009. = Südosteuropäische Arbeiten, 141. ISBN: 978-3-486-59163-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Luchterhandt_Transnational_Societies.html (Datum des Seitenbesuchs)

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