Alexander Solschenizyn „Zweihundert Jahre zusammen“. Bd. 2: Die Juden in der Sowjetunion. Aus dem Russischen von Andrea Wöhr und Peter Nordqvist. Herbig Verlag München 2003. 608 S.
Im zweiten Band seiner Geschichte der russisch-jüdischen Beziehungen in den letzten zweihundert Jahren setzt Aleksandr Solženicyn seinen bereits im ersten Band angekündigten Versuch fort, zwischen Russen und Juden zu vermitteln. Aber schon nach der Lektüre des ersten Bandes drängte sich folgende Frage auf: Wenn dies ein Vermittlungsversuch sein soll, wie sieht dann eine Polarisierung aus? Denn den roten Faden des ersten Bandes stellte die Apologie der Judenpolitik des Zarenreiches dar, die Verteidigung des „erniedrigten“ und „beleidigten“ Russlands gegen seine angeblichen „Verleumder“, bei denen es sich in erster Linie, wie leicht zu vermuten, um Juden handle. Der Ton des hier vorliegenden zweiten Bandes ändert sich. Der leidenschaftliche Apologet verwandelt sich in einen nicht weniger leidenschaftlichen Ankläger. Während sich Solženicyn im ersten „vorrevolutionären“ Band vor allem darauf konzentrierte, den von den Juden beanspruchten Opferstatus in Frage zu stellen, versucht er im vorliegenden Band mit außerordentlicher Vehemenz, die besondere Verantwortung der Juden für die 1917 ausgebrochene Tragödie zu begründen. Darin unterscheidet er sich kaum von der traditionellen russischen Rechten, die sich schon seit Generationen darum bemüht, die Russische Revolution zu „entrussifizieren“ und die Zerstörung der Zarenmonarchie als das Werk der sogenannten Russlandhasser, in erster Linie der Juden, darzustellen.
Verfechter derartiger Theorien unterschätzen die Tatsache, dass das eigentliche Drama der Russischen Revolution sich in erster Linie innerhalb des russischen Staatsvolkes abspielte. Die erschreckende Leere, die den Thron sowohl während der Revolution von 1905 als auch im Februar 1917 umgab, zeigte, dass die Dynastie der Romanows ihre Verwurzelung bei den eigenen Untertanen weitgehend verloren hatte. Die Hingabe, mit der viele Juden der Revolution dienten, stellte im damaligen, vom Revolutionsfieber erfassten Land nichts Ungewöhnliches dar. Trotz all dieser Sachverhalte, konzentriert Solženicyn seine Aufmerksamkeit in erster Linie auf die jüdische Komponente der Russischen Revolution. Er ist nur bereit, die erste Phase der 1917 begonnenen Umwälzung – die Februarrevolution – als „russisch“ zu bezeichnen. Aber schon in dieser Phase konstatiert er eine verhängnisvolle Rolle der jüdischen Sozialisten, die angeblich das mächtige Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets (CIK) dazu benutzten, um die Revolution in immer radikalere Bahnen zu lenken. Neben den Juden seien auch andere Nichtrussen – Kaukasier, Letten und Polen – im CIK überproportional vertreten gewesen. Durch diesen vorwiegend nichtrussischen Charakter der Führung des Sowjets erklärt Solženicyn den für Russland schädlichen Radikalismus dieses Gremiums.
Die wahren Sachverhalte werden durch diese Behauptung des Autors im Grunde auf den Kopf gestellt. Denn gerade dieses angeblich „unrussische“ CIK bemühte sich in den ersten Monaten der Februarrevolution unentwegt um die Eindämmung der radikal-revolutionären Strömung, die damals die von Solženicyn derart verklärten russischen Volksschichten erfasst hatte. Um gemeinsam mit den bürgerlich-liberalen Kräften diese anarchische Woge zu kanalisieren, traten gemäßigte Führer des Sowjets Anfang Mai 1917 sogar in die Provisorische Regierung ein. Und gerade deshalb verlor der Sowjet bei den russischen Unterschichten an Popularität. Den Appellen der gemäßigten Sozialisten, die die Bevölkerung zum maßvollen Handeln aufriefen, wurde immer weniger Gehör geschenkt.
Die Verantwortung für das 1917 begonnene wohl tragischste Kapitel der russischen Geschichte trugen mehr oder weniger alle maßgeblichen Schichten und Nationalitäten des russischen Imperiums, und der Versuch Solženicyns, diese Tragödie in erster Linie auf das Wirken der „nichtrussisch denkenden“ Bevölkerungsgruppen, insbesondere der Juden, zurückzuführen, hat mit einer nüchternen geschichtlichen Analyse wenig zu tun. Viel adäquater charakterisierte die Umwälzung von 1917 und ihre Folgen der Emigrant und Vordenker der ansonsten recht umstrittenen „Smena-Vech-Bewegung“ Nikolaj Ustrjalov. 1921 schrieb er: „Sie [die Revolution] ist ausgesprochen russisch, ganz in unserer Psychologie und Geschichte verwurzelt. Selbst wenn man mit mathematischer Genauigkeit beweisen würde, wie dies manche zur Zeit ohne Erfolg zu tun versuchen, dass 90 % der Revolutionäre Nichtrussen, in erster Linie Juden sind, würde dies den ausgesprochen russischen Charakter der Bewegung nicht widerlegen.“ (Nikolaj Ustrjalov Patriotika, in: Smena vech. Sbornik statej [Umstellung der Wegmarken. Eine Aufsatzsammlung]. Prag 1921, S. 46).
Solženicyns Schuldzuweisungen beschränken sich allerdings nicht nur darauf, dass er auf die Juden eine besondere Verantwortung für die Russische Revolution und für den bolschewistischen Terror überträgt. Er bezichtigt sie auch eines mangelnden Patriotismus. Bereits im ersten Band fragte er rhetorisch: „Konnten sie sich im geistigen Sinne gänzlich und restlos als Russen fühlen? Konnten die Staatsinteressen Rußlands in ihrem gänzlichen Umfang und ihrer vollen Tiefe zu ihrer Herzensangelegenheit werden?“ (Aleksandr Solženicyn Dvesti let vmeste (1795–1995) [Zweihundert Jahre zusammen (1795–1995)]. Bd. 1. Moskva 2001, S. 454.) Auch im zweiten Band wirft der Autor den russischen Juden vor, sie identifizierten sich nicht vorbehaltlos mit ihrem Heimatland. Sogar im deutsch-sowjetischen Krieg, als es um Sein oder Nichtsein der russischen, ja der europäischen Juden insgesamt ging, sei das Engagement vieler Juden lauwarm gewesen: „[In] der Masse der Slawen [blieb] das beklemmende Gefühl, dass unsere Juden in diesem Krieg selbstloser hätten sein können“ (S. 375). Dann zitiert Solženicyn die Aussage des jungen russischen Juden Schulim Dain, der kurz nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges meinte, „dass es ein Glücksfall wäre, wenn die Juden diesen Kampf von der Seite beobachten könnten, es ist nicht ihr Krieg“ (S.382). Dann fügt der Autor hinzu: „Man kann vermuten, dass nicht nur Dain [der übrigens, wie Solženicyn selbst berichtet, später vor Stalingrad fiel], so dachte, sondern besonders wohl Juden, die etwas älter und lebensweiser waren.“ (S. 382) Einige wenige Beispiele reichen Solženicyn, um aus ihnen allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen – eine recht verbreitete Tendenz bei Amateurhistorikern. In Wirklichkeit unterschied sich die Einstellung der überwältigenden Mehrheit der sowjetischen Juden zum Krieg grundlegend von dem von Solženicyn beschriebenen Verhaltensmuster, worauf unzählige Belege hinweisen. Der polnische Dichter und Schriftsteller Aleksander Wat, der zu den besten und differenziertesten Kennern Russlands zählt und die Kriegsjahre in der UdSSR verbrachte, definiert den deutsch-sowjetischen Krieg nicht nur als einen russischen, sondern auch als einen „jüdischen Krieg“: „Der Patriotismus der Juden war [...] unglaublich dynamisch. [Insbesondere] die Ingenieure in der Industrie [haben] Wunder vollbracht. Sie arbeiteten bis zu 20 Stunden am Tag, und das rasante Vordringen der Industrie in die Tiefen Rußlands [...] war in überwältigendem Maße jüdischem Organisationstalent und jüdischer Dynamik zu verdanken.“ (Aleksander Wat Jenseits von Wahrheit und Lüge. Frankfurt a.M. 2000, S. 618.) Was die Zahl der jüdischen Frontsoldaten anbetrifft, die während des Krieges Kriegsauszeichnungen und Tapferkeitsmedaillen erhielten, so nennt Solženicyn selbst, in Anlehnung an jüdische Quellen, mehr als 123.000 Ausgezeichnete, also etwa ein Viertel der Juden, die während des Krieges in der Roten Armee dienten.
Im letzten Teil seines Kriegskapitels befasst sich Solženicyn mit dem Holocaust, und sogar bei diesem Thema hört er nicht auf, den Juden strenge Lektionen zu erteilen. Die Juden beschäftigten sich aus seiner Sicht zu viel mit ihrer Rolle als Opfer und zu wenig mit ihren eigenen Taten. Zustimmend zitiert er die These eines jüdischen Autors, „dass die Shoa in bedeutendem Maße eine Strafe für die Sünden war, unter anderem für die Sünde der Leitung der kommunistischen Bewegung“ (S. 402). Solženicyn bedauert dabei, dass eine solche Sicht für „den Großteil des zeitgenössischen Judentums [...] beleidigend und ketzerisch [erscheint]“ (S. 402). Einen Lichtblick sieht er aber, und das ist das höchst umstrittene Buch der Publizistin und Amateurhistorikerin Sonja Margolina „Das Ende der Lügen“, aus dem er voller Bewunderung folgende Sätze zitiert: „Das solide moralische Kapital, das die Juden nach Auschwitz bekommen haben, scheint erschöpft zu sein. [Die Juden] können nicht mehr einfach auf der alten Bahn ihrer Ansprüche an die Welt fortfahren“ (S. 402). Die Thesen Margolinas über eine viel zu intensive Beschäftigung der Juden mit dem Holocaust, mit denen sich Solženicyn weitgehend identifiziert, erinnern in verblüffender Weise an die Argumentation der sowjetischen Funktionäre, die kurz nach dem Kriege die Veröffentlichung des sogenannten „Schwarzen Buches“, das die Judenvernichtung in den von den Deutschen besetzten sowjetischen Gebieten dokumentierte, nicht zuließen. Der Leiter der Propagandaabteilung des ZK, G. Aleksandrov, begründete dieses Verbot folgendermaßen: „Den roten Faden des Buches bildet der Gedanke, dass die Vernichtungspolitik der Deutschen sich nur gegen die Juden richtete. Beim Leser entsteht der Eindruck, dass die Deutschen im Krieg gegen die Sowjetunion nur ein einziges Ziel verfolgten, und zwar die Liquidierung der Juden.“ (Shimon Redlich, Gennadij Kostyrčenko (Hrsg) Evrejskij antifašistskij komitet v SSSR 1941–1948. Dokumentirovannaja istorija [Das Jüdische Antifaschistische Komitee. Eine dokumentierte Geschichte]. Moskva 1996, S. 261) Dass einer der radikalsten Kritiker des stalinistischen Regimes die angeblichen Defizite der jüdischen Erinnerungskultur mit ähnlichen Argumenten anprangert wie ein stalinistischer Funktionär, stellt eine der erstaunlichsten Facetten dieses Buches dar.
Leonid Luks, Eichstätt
Zitierweise: Leonid Luks über: Alexander Solschenizyn „Zweihundert Jahre zusammen“. Bd. 2: Die Juden in der Sowjetunion. Aus dem Russischen von Andrea Wöhr und Peter Nordqvist. Herbig Verlag München 2003. ISBN: 3-7766-2356-X, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Luks_Solschenizyn_Zweihundert_Jahre.html (Datum des Seitenbesuchs)