A. Kasparavičius, C. Laurinavičius, N. Lebedeva (Hrsg.) SSSR i Litva v gody Vtoroj Mirovoj Vojny. Sbornik dokumentov. T. 1: SSSR i Litovskaja Respublika (mart 1939 – avgust 1940 gg.) [Die UdSSR und Litauen in den Jahren des Zweiten Weltkrieges. Dokumentensammlung. Bd. 1: Die UdSSR und die Republik Litauen (März 1939 – August 1940]. Lietuvos istorijos instituto leidykla Vilnius 2006. 774 S.
Die politischen Ereignisse des „langen Jahres 1940“ in den drei baltischen Republiken lösen immer wieder Konflikte in den außenpolitischen Beziehungen zwischen dem heutigen Russland und den baltischen Staaten aus: Der geschichtspolitische Diskurs ist auf beiden Seiten emotional aufgeladen und für die Forscher verwirrend. Mit der zweibändigen Quellenedition „Die UdSSR und Litauen im Zweiten Weltkrieg“ soll nun ein bedeutender Beitrag zur Aufarbeitung der sowjetisch-litauischen Beziehungsgeschichte geleistet werden. Den Herausgebern, dem Historischen Institut Litauens und dem Institut für allgemeine Geschichte der Russländischen Akademie der Wissenschaften, ist ein lobenswerter Versuch zu verdanken, das stark politisierte Thema durch die Publikation der Dokumente der litauischen und sowjetischen Diplomatie jener Zeit und die Vielfalt der edierten Quellen sachlich anzugehen.
Der nun vorliegende erste Band widmet sich den bilateralen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Litauen im Zeitraum vom Frühjahr 1939 (Annexion des Klaipeda-Gebietes durch NS-Deutschland) bis zum August 1940 (Annexion der baltischen Republiken durch die UdSSR und Bildung der Litauischen SSR). Somit erfährt das Thema, das zum ersten Mal in den Quelleneditionen „Polpredy soobščajut …“ (Moskau 1990) und „Dokumenty vnešnej politiki“ (Moskau 1992) angerührt wurde, eine längst fällige Fortsetzung. Ein großer Gewinn für die Quellenedition war die Zusammenarbeit von litauischen und russischen Historikern und die Auswahl eines beachtlichen Panoramas an bisher unveröffentlichten Primärquellen aus den Archiven der beiden Länder: Die Sammlung umfasst besonders bedeutende Dokumente aus dem Außenpolitischen Archiv der Russländischen Föderation (Archiv Vnešnej Politiki Rossijskoj Federacii; AVP RF), dem Russländischen Staatlichen Archiv für gesellschaftliche und politische Geschichte (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-političeskoj Istorii, RGASPI) und dem Russländischen Staatlichen Militärarchiv (Rossijskij Gosudarstvennyj Voennyj Archiv, RGVA) sowie Quellen aus dem Zentralen Staatsarchiv Litauens, (Lietuvos Centrinis Valstybes Archyvas, LCVA) und aus dem Litauischen Sonderarchiv – Archivbestand der litauischen KP. Als besonders interessant und wertvoll für den Einblick in den Mechanismus der Entscheidungsfindung der Moskauer Machthaber in der „baltischen Frage“ sind die Materialien aus den Privatarchiven Stalins und Molotovs zu bezeichnen, die aus dem Archiv des russischen Präsidenten an das RGASPI übergeben wurden. Der vorliegende Band bezieht auch Quellen ein, die bereits an anderer Stelle (z.B. in „Polpredy soobščajut …“ und in „Lietuvos okupacija ir aneksija 1939/40“) publiziert wurden; die Edition setzt jedoch – so die erklärte Absicht der Herausgeber – die Priorität auf die bisher unbekannten Quellen. Die Dokumente werden vollständig publiziert und sind chronologisch geordnet; jede Quelle ist dabei mit einem Kommentar der Herausgeber versehen, welcher ggf. den Aktenbestand sowie die begleitenden Dokumentbeilagen beschreibt. Der wissenschaftliche Apparat besteht neben dem Kommentarapparat aus einer Einleitung, einem Quellenüberblick, einem Abkürzungsverzeichnis sowie einem Namensregister mit kurzen biografischen Skizzen. Dem Dokumententeil ist eine Einleitung der Herausgeberin N. Lebedeva vorangestellt, in welcher eine kurze chronologische Skizze mit Verweis auf die Schlüsseldokumente der beiden entscheidenden Jahre geboten wird.
Durch die Vielfalt an Primärquellen wird – in Übereinstimmung mit der neueren Forschung (z.B. Elena Zubkova Pribaltika i Kreml’ 1940–1953. Moskva 2008) – deutlich, dass die Annexion Litauens 1940 durch die Sowjetunion kaum auf die imperiale Gier Stalins nach Gewinnung neuer Territorien und deren systematische Verwirklichung reduziert werden darf. Vielmehr ordnet die Edition diesen Vorgang in den Kontext derjenigen außenpolitischen Prozesse ein, die im Vorfeld und im Verlauf des Zweiten Weltkriegs den Souveränitätsverlust Litauens, Estlands und Lettlands besiegelten. Die zentrale Frage, der die Herausgeber mit Hilfe der Quellen nachgehen, ist die nach den Voraussetzungen für die Etablierung der Sowjetmacht im Baltikum: Wie und wann entstand im Kreml’ die Idee, Litauen zu sowjetisieren, also vollständig der eigenen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kontrolle zu unterstellen? Welche Politik verfolgte man im Kreml’ gegenüber Litauen, worin bestand die Besonderheit des litauischen Falles und wie wurde auf die Provokationen aus Moskau in Kaunas reagiert? Was waren die Entscheidungsmechanismen und welche Rolle spielte der persönliche Faktor Stalin dabei?
Dieser Fragenkomplex wird systematisch mit Hilfe der Quellen beantwortet, wodurch dem Leser die ganze Komplexität der Technologie der Annexion vor Augen geführt wird. So wird deutlich, dass das rechtswidrige militärische Eindringen der Roten Armee im Frühjahr 1940, dem der „freiwillige Beitritt“ Litauens in die Völkerfamilie der UdSSR folgte, auf eine kurzfristige Entscheidung auf höchster Ebene (Stalin, Molotov) zurückging: Die Gründe dafür wären in der Konstellation der europäischen Mächte zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zu suchen. Noch im Herbst 1939 schrieb Stalin an den Generalsekretär der Komintern Georgi Dimitrov, dass durch die Unterzeichnung der Beistandspakte mit den baltischen Staaten, welche die Stationierung von Einheiten der Roten Armee im Baltikum festschrieben, die Handlungsform gefunden worden sei, um diese Staaten der Einflusssphäre der Sowjetunion einzuverleiben. Die Sowjetisierung sei dabei nicht angestrebt (sic!): „Es wird die Zeit kommen, wenn sie es selbst machen.“ (S. 304–305). Der Sowjetmacht ging es nach der Annexion des Memel-Gebietes durch NS-Deutschland zuerst und vor allem um die Erweiterung der sowjetischen Einflusssphäre auf die baltischen Republiken, was bevorzugt mit den Mitteln der soft power (u.a. Förderung der sowjetischen Presse und Literatur) erfolgen sollte. Nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes am 23. August 1939 nahmen in den sowjetisch-litauischen Beziehungen die Spannungen zu: Der Überfall auf Polen durch Hitler und der folgende Einmarsch der Roten Armee brachte Litauen – wie auch den beiden anderen baltischen Staaten – die Angst um den Verlust der strengen Neutralität. Die Dokumente belegen, wie der Handlungsspielraum Litauens immer enger wurde: So ließ Stalins klassische „Zuckerbrot-und-Peitsche“-Verhandlungstechnik der litauischen Regierung keine andere Wahl, als mit Moskau zu paktieren und die Stationierung von 20.000 Rotarmisten im Land zuzulassen. Gleichwohl bietet der Fall Litauen in der baltischen Politik Moskaus ein zusätzliches interessantes Detail: Dem litauischen Staat wurde das lang ersehnte Vilna-Gebiet zugesprochen – eine Entscheidung, welche die litauische Führung zeitweilig dazu brachte, nach den Spielregeln des Kreml’s zu spielen (S. 306–307, 311). Obwohl der Vertrag zwischen Litauen und der Sowjetunion vom Oktober 1939 explizit das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten Litauens formulierte, schuf gerade er die Voraussetzungen für die Sowjetisierung Litauens.
Die litauischen Quellen verdeutlichen seit dem Spätherbst 1939 – angesichts des immer größeren Widerspruchs zwischen der erklärten Zurückhaltung der Moskauer Politik und der tatsächlichen Einmischung – eine ansteigende Nervosität auf der diplomatischen Ebene sowie in der Regierungselite. Mehrere Dokumente, so auch Briefe und Tagebucheinträge des litauischen Botschafters Ladas Natkevičius, belegen vergebliche Versuche der litauischen Führung, das Verhältnis zu Moskau zu entschärfen, wobei diese auf kein Entgegenkommen stießen (S. 556f.). Zahlreiche Quellen zeigen auch die manipulativ-propagandistische Gewolltheit der Moskauer Kritik an Litauen auf: So wird die zunehmende Aggressivität Moskaus mit „antisowjetischen“ Karikaturen in der litauischen Presse und der angeblichen „Entführung“ von Rotarmisten gerechtfertigt. Stalin und Molotov nutzten den Vorwand des angeblich „illoyalen“ Verhaltens Litauens im Mai/Juni 1940, um das der Annexion vorausgehende Ultimatum zu stellen und das Land dann de facto und de jure endgültig unter sowjetische Kontrolle zu bringen. Somit erscheint als Ausgangspunkt für die Sowjetisierung des Baltikums, wie sie dem Leser im vorliegenden Band durch ausgewählte Quellen dargestellt wird, eine kurzfristige Entscheidung Moskaus zur Vorbereitung des zukünftigen Kriegsschauplatzes, wobei die Eigendynamik der Entscheidungsprozesse gut nachgezeichnet wird.
Wenn auch die Spannweite der dokumentierten Aspekte beeindruckend ist, fällt der historiographische Apparat eher schwach aus: Die Einleitung verzichtet auf die Einordnung des Themas in den größeren historischen Zusammenhang; dessen Forschungs- und geschichtspolitische Relevanz wird nicht erläutert. Die Herausgeber beschränken sich lediglich auf die Benennung der wichtigsten Schritte des Kreml’s auf dem Weg zur Annexion Litauens, ohne dabei auf die Kontroversen einzugehen, welche die Diskurse in der Forschung und Publizistik der beiden Länder bestimmen. Wünschenswert wäre eine schärfere Bestimmung von Begriffen wie „Annexion“, „Besatzung“, „Okkupation“.
Bedauerlicherweise verzichten die Herausgeber auch auf einen bibliographischen Apparat, welcher dem Forscher andere Werke bzw. Quelleneditionen zu der Thematik bequem zugänglich machen würde. So muss man die bibliographischen Angaben zu den schon erschienenen Quelleneditionen in den Fußnoten suchen. Gleichwohl kann – ungeachtet der genannten Mängel – die gemeinsame Arbeit der russischen und litauischen Historiker als ein wertvoller Beitrag zu einem der aktuellsten Themen der historischen Forschung gesehen werden.
Ekaterina Makhotina, München
Zitierweise: Ekaterina Makhotina über: A. Kasparavičius, C. Lauranavičius, N. Lebedeva (Hrsg.) SSSR i Litva v gody Vtoroj Mirovoj Vojny. Sbornik dokumentov. T. 1: SSSR i Litovskaja Respublika (mart 1939 – avgust 1940 gg.) [Die UdSSR und Litauen in den Jahren des Zweiten Weltkrieges. Dokumentensammlung. Bd. 1: Die UdSSR und die Republik Litauen (März 1939 – August 1940]. Lietuvos istorijos instituto leidykla Vilnius 2006. ISBN: 9986-780-81-0, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 453-455: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Makhotina_Kasparavicius_SSSR_i_Litva_1.html (Datum des Seitenbesuchs)