Latvija pod igom nacizma. Sbornik archivnych do­kumentov. [Lettland unter dem Nazijoch. Eine Sammlung von Archivdokumenten.] Izdat. Evropa Moskva 2006. 344 S., Abb., Tab. = Evrovostok.

Die geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Konflikte zwischen Russland und den bal­tischen Staaten, seitdem die letzteren ihre Unabhängigkeit wiedererlangt haben, sind bekannt und selbst schon Geschichte. Gestritten wird zuerst und vor allem um den Zweiten Weltkrieg, um Widerstand und Kollaboration, Befreiung und Okkupation. Die historische Forschung in den baltischen Staaten selbst – und hier ist Lettland keine Ausnahme – widmete sich erst seit der Berufung der Historikerkommission Ende der neunziger Jahre den Fragen der eigenen Mittäterschaft am Holocaust.

Mit dem vorliegenden Band wurde von russischer Seite ein Versuch unternommen, Verbrechen der deutschen SD- und SS-Einheiten sowie ihrer lettischen Mithelfer in den Kriegsjahren 1941–1944 zu dokumentieren. Um es vorwegzunehmen – es handelt sich dabei um keine wissenschaftlich ernst zu nehmende Quellenedition, sondern um den Abdruck zweifelhafter Quellen, motiviert durch die Aktualität des Themas: Das Schwarzbuch „der faschistischen Okkupation“ Lettlands ist schlicht als ei­ne geschichtspolitische Reaktion auf das neue let­tische Lehrbuch „Geschichte Lettlands. 20. Jahr­hundert“ (2005) zu sehen.

Weder Verfasser noch Herausgeber des Bandes werden genannt. Die in einem pathetischen Stil geschriebene und anklagend verfasste Einleitung bleibt auch anonym. Dass diese Publikation somit das Ziel verfolgt, die Narrative von den guten sowjetischen Befreiern und den unmenschlichen „faschistischen Besatzern“ und ihren Helfern zu aktualisieren, wird allein schon durch den Blick auf die Quellenauswahl offensichtlich: Die Beteiligung der Letten im SD und in der SS soll durch Verhörprotokolle (!) des NKVD und der SMERŠ nachgewiesen werden. Es wird auch nicht deutlich gemacht, nach welchen Kriterien die Dokumente (aus dem Zentralarchiv des FSB, dem Staatlichen Archiv der RF sowie dem Russländischen Staatlichen Militärarchiv) zur Publikation ausgewählt wurden. Die Quellen übertreffen sich hinsichtlich des Ausmaßes der darin dargestellten Greuel: Beschreibung der physischen Folter im Rigaer Gestapo-Gefängnis, „medizinische“ Ver­suche im KZ Salaspils, weiterhin „medizinische“ Experimente an Kindern und deren anschließende Ermordung sowie massenhafte Erschießungen von Zivilisten. Die Aussagekraft der meisten der 58 im vorliegenden Band angeführten Protokolle und Berichte hält jedoch keiner quellenkritischen Überprüfung stand: Es sind fabrizierte Verhörprotokolle des NKVD, das unmittelbar nach dem Kriegsende in Lettland tätig wurde; die „Faktendarstellung“ enthält somit in erheblichem Maße ideologisch-propagandistische Anteile: „deutsch-faschistische Okkupanten“, „lettische militaristisch-faschistische Gruppen“, „nationalistische Banditen“.

Dadurch, dass die Quellen sich selbst diskreditieren, wird von den in Wirklichkeit sehr komplexen Verhältnissen in Lettland während des Zweiten Weltkriegs mit all den Opfern, Tätern und bystanders ein vereinfachendes oder schlicht falsches Bild gezeichnet. Dass die Herausgeber keinen Wert auf den Entstehungskontext ihrer Text- und Bildquellen legen, wird allein schon beim Betrachten des Umschlagbildes deutlich: Es zeigt die weltbekannte Photographie der abgemagerten Häftlinge im KZ Buchenwald nach deren Befreiung 1945. Weder das Lager noch die Entstehungsgeschichte des Bildes werden im Band erwähnt, die Abbildung bleibt ohne Quellenangabe.

Ekaterina Makhotina, München

Zitierweise: Ekaterina Makhotina über: Latvija pod igom Nazisma: Sbornik archivnych dokumentov. Izdat. Evropa Moskva 2006. ISBN: 5-9739007-7-0, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Makhotina_Latvija_pod_igom_Nacizma.html (Datum des Seitenbesuchs)