Pravo na imja: biografii XX veka. Biografičeskij me­tod v social’nych i istoričeskich naukach. Čte­nija pamjati Veniamina Iofe. 18–19 aprelja 2003 [Recht auf den Namen. Biographien des 20. Jahrhunderts. Der biographische Ansatz in den Geschichts- und Sozialwissenschaften. Lesungen zum Gedenken an Veniamin Iofe. 18.–19. April 2003]. Naučno-informacionnyj centr „Memorial“; Izdat. Severo-Zapad S.-Peterburg 2004. 191 S.

Pravo na imja. Biografija kak paradima isto­ri­čes­kogo processa. Vtorye čtenija pamjati Veni­a­mi­na Iofe. 16–18 aprelja 2004 [Recht auf den Namen. Biographie als Paradigma des historischen Prozesses. Zweite Lesungen zum Gedenken an Veniamin Iofe. 16.–18. April 2004]. Na­uč­­no-informacionnyj centr „Memorial“; Izdat. Severo-Zapad S.-Peterburg 2005. 199 S.

Pravo na imja. Biografija vne šablona. Tretie Čte­nija pamjati Veniamina Iofe. 22–24 aprelja 2005 [Recht auf den Namen. Biographie außerhalb der Schablone. Dritte Lesungen zum Gedenken an Veniamin Iofe. 22.–24. April 2005]. Naučno-informacionnyj centr „Memorial“; Izdat. Severo-Zapad S.-Peterburg 2006. 167 S.

Pravo na imja. Biografika 20 veka. Me­to­do­lo­gija sostavlenija i izučenija biografii. Četvertye čte­nija pamjati Veniamina Iofe. 17–18 aprelja 2006 [Recht auf den Namen. Biographik des 20. Jahrhunderts. Methodologie der biographischen Sammlung und Erforschung. Vierte Lesungen zum Gedenken an Veniamin Iofe. 17.–18. April 2006]. Naučno-informacionnyj centr „Memorial“; Izdat. Severo-Zapad S.-Peterburg 2006. 164 S.

Pravo na imja. Biografika 20 veka. Ėpocha i lič­nost’: rakursy istoričeskogo ponimanija. Pjatye čte­nija pamjati Veniamina Iofe. 16–18 aprelja 2007 [Recht auf den Namen. Biographik des 20. Jahrhunderts. Epoche und Persönlichkeit: Blick­winkel des historischen Verständnisses. Fünf­te Lesungen zum Gedenken an Veniamin Iofe. 16.–18. April 2008]. Naučno-in­for­ma­ci­on­nyj centr „Memorial“; Izdat. Severo-Zapad S.-Peterburg 2007. 231 S.

Die Lesungen „Recht auf den Namen“ widmen sich seit fünf Jahren aktuellen Problemen der Biographik in den Geschichts- und Sozialwissenschaften. Im Rahmen der internationalen und interdisziplinären Konferenzen kommen Theorie und Methodologie des biographischen Schreibens im Russland des 20. Jahrhunderts zur Sprache. Das Wissenschaftliche Informationszentrum „Memorial“ publiziert in Zusammenarbeit mit der Europäischen Universität St. Pe­ters­burg die Beiträge der Historiker, Literatur- und Sozialwissenschaftler in den jährlichen Tagungs­bänden. Bis dato sind fünf thematische Tagungsbände erschienen: „Biographien des 20. Jahrhunderts. Der biographische Ansatz in den Geschichts- und Sozialwissenschaften“ (2003); „Biographie als Paradigma des historischen Prozesses“ (2004); „Biographie außerhalb der Schablone“ (2005); „Methodologie der biographischen Sammlung und Erforschung“ (2006) sowie „Die Epoche und die Persönlichkeit: Verkürzungen des historischen Verständnisses“ (2007).

In der post-sowjetischen Geschichtsschreibung wurde Biographik als historiographischer Ansatz lange Zeit vernachlässigt. Die „institutionelle“ (z.B. als Selbstdarstellung in Formularen der offiziellen Behörden und in GPU-NKWD-KGB Fragebogen) sowie die „normierte“ (Auto-) Biographik aus der Sowjetzeit hat schwer zur Diskreditierung der biographischen Selbst- und Fremddarstellung als Quelle für die Geschichtsschreibung beigetragen. Oft gilt der biographische Ansatz zudem als subjektiv und sodann unhistorisch. Gleichzeitig rückt das Individuum, samt seiner Lebensgeschichte und seiner Lebenswelt immer stärker ins Zentrum des Interesses. Historiker und Soziologen wenden sich in ihren Forschungsstudien zur sowjetischen Epoche an die Biographik als Ansatz und an den Lebenslauf als Quelle, um den Fragen nach denr Stützen und nach Dynamik des totalitären Systems näher zu kommen.

Es mag vielleicht erstaunen, dass Herausgeber der Sammelbände das Menschenrechts- und Informationszentrum „Memorial“ ist; dies hat jedoch seine Wurzel, die in die neunziger Jahre zurückreicht: Seit der Perestrojka sammelt und systematisiert „Memorial“ die Biographien der politisch Repressierten, der Dissidenten und ehe­maligen Gulag-Häftlinge. Somit gilt das Ar­chiv der St. Petersburger Memorial-Gesellschaft als eine der ersten Anlaufstellen für Historiker der Sowjetperiode. Zugleich erarbeitete „Memorial“ eine praktische Methodik zur Erschließung der sog. „marginalen“ Biographien, welche die soziologischen Ansätze mit den historischen Kon­texten verbindet. Seit 2003 etablierte sich zu Ehren des Archivgründers und langjährigen Direktors von „Memorial“, Veniamin Iofe, die Tradition zur einer Sammlung und Publikation der theoretischern und praktischenr Studien zu Biographik.

Einen wichtigen Platz in den bisher veröffentlichten Beiträgen nimmt die Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis des Sowjetbürgers ein, deren Ursprung man in seiner (Auto-)Biographie finden kann: die Wahrnehmung von Unterdrückung und Widerstand und die „Selbstredaktion“ des Privaten. Als roter Faden der fünf erschienenen Bände lassen sich folgende Hauptthemen deutlich machen: biographische Modelle (Autobiographie, Tagebuch, biographischer Fragebogen), Konflikt zwischen dem Faktum und der Wahrnehmung, Quellenproblematik und die Besonderheit der „post mortem“-Biographie (Nekrologe, Bücher des Gedenkens).

Zur besseren Einordnung der Sammelbände in den breiteren Forschungszusammenhang seien im Folgenden einige Beiträge beispielhaft erwähnt. Der erste Tagungsband „Biographien des 20. Jahrhunderts“ beschäftigt sich mit Grundfragen der postsowjetischen Biographik: Boris Belenkin (Wissenschaftliches Informationszentrum „Memorial“, Moskau) untersucht in seinem Beitrag „Mythos als Quelle“ anhand der Lebensdarstellungen der „Jahrhundertfiguren“ der sowjetischen Geschichte die Möglichkeit der Trennung der biographischen Narrative vom biographischen Mythos in der Geschichtswissenschaft. Die Umschreibung der Lebensgeschichten von „großen Menschen“ wie Lenin, Stalin, Trockij und Bucharin nach der perestrojka verlief unter der Zielsetzung der Distanzierung von der sowjetischen Mythologie, was gewissermaßen zur Schaffung neuer Mythen führte. Diese Interdependenz zwischen der geschriebenen Lebensdarstellung und dem aktuellen sozialen und politischen Kontext macht die Sozialwissenschaftlerin Elena Čikadze (Unabhängiges soziologisches Forschungszentrum, St. Pe­ters­burg) in dem Beitrag „Biographie und Kontext“ deutlich. In der Analyse der Interviews stellt sie fest, dass der Erzähler seinem Leben und seinen Handlungen in der Sowjetzeit rückblickend eine gewandelte Deutung zu verleihen und den eigenen Lebensweg mit Blick auf den aktuellen öffentlichen Diskurs anders zu werten und zu interpretieren vermochte.

Eine beeindruckende Skizze zur Anthropologie des homo sovieticus aus der kultursoziologischen Perspektive legt Boris Dubin (Levada-Zentrum, Moskau) im zweiten Tagungsband „Biographie als Paradigma des historischen Prozesses“ vor. Aus Forschungen der letzten Jahre zum Alltagsleben und zu Praktiken der Subjektformierung in der Sowjetunion unter Stalin (z.B. O. Charchordin, A. Ėtkind) ging die These hervor, dass der Sowjetbürger sich in der Gruppe und unter wechselseitiger Kontrolle kon­stituierte. Dubin tritt in seinem Beitrag „Grenzen und Ressourcen des autobiographischen Schreibens“ gegen die Reduzierung der Lebensdarstellungen in den Ego-Dokumenten auf die Arbeit am ideologiekonformen „Ich“ an. Anhand der Analyse des Tagebuchs einer einfachen Frau kommt Dubin zur Schlussfolgerung, dass die Erzählerin in ihren Notizen den Lebensweg als eine Geschichte des Leidens, jedoch gleichzeitig mit einem prägenden Vaterlandsstolz darlegtebeschrieb. Sie kann sich nicht außerhalb des normierten offiziellen Diskurses denken, versteht es jedoch nicht als ihre Aufgabe, an ihrer Selbstdisziplinierung und Entwicklung zum „Neuen Menschen“ zu arbeiten. In ihrem Selbstbild zeigt sie sich als ein passiver, „kleiner“ Mensch“, ein „Objekt“ der Umstände (Kollektivierung, Krieg, unumgängliche kommunistische Aktivität).

Irina Flige (Memorial, St. Petersburg) setzt sich in Ihrem Beitrag „Die Biographien vom GULAG: die Normalität der Wahrheitstäuschung in den Quellen“ mit den Lebensdarstellungen der politischen Häftlinge aus der Stalin-Epoche auseinander. Die untersuchten Tagebücher der Repressierten ließen eine gewisse „Bewegung“ in der Autobiographie feststellen – von einem deskriptiven „normalen“ Selbstporträt hin zu einer marginalen, normativen Selbstdarstellung nach der Lagererfahrung. Die „Ich-Form“ der Erzählung wandelt sich dabei in eine Passiv-Form um: Der Autor ist angewiesen, sein Leben nach der Verhaftung in einer entindividualisierten Lagersemantik zu beschreiben.

In eine ähnliche Richtung weist Nina Cve­ta­eva (Institut für Soziologie RAW, Moskau) in ihrem Beitrag „Sprache der Biographien im Kontext der sozio-kulturellen Veränderungen“ im dritten Tagungsband „Biographie außerhalb der Schablone“. Sie untersucht die Spra­che der Erzähler anhand der Autobiographien der späteren Sowjetepoche. Es kann festgehalten werden, dass in den untersuchten Biographien auf der semantischen Ebene zeittypische Abdrücke der Realität sichtbar werden. Die Erzähler verdrängen das Private in den Hintergrund und sprechen dem Öffentlichen und Kollektiven Prio­rität zu, was man als Ergebnis der Normalisierungspolitik Politik der Normierung des Individuums während der Sowjetzeit werten kann. Dabei wird jegliche logische Kausalität zwischen der negativen Lebenserfahrung der Menschen und der staatlichen Politik geleugnet.

Einer der erkenntnisreichsten Beiträge aus dem vierten Tagungsband ist die soziologische Stu­die von Anna Šor-Čudnovskaja (Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung) mit dem Titel „Biographie des eigenen Landes“. Die Autorin befragte Jugendliche im Alter zwischen 18 und 25 Jahren zu deren Bewertung der sowjetischen Geschichte und der aktuellen politischen Ereignisse in Russland. In ihrem Beitrag stellt Šor-Čudnovskaja eine „fundierte Unkenntnis“ (S. 51) der sowjetischen Geschichte fest – kaum jemand konnte sich an die einschneidenden Zäsuren der sowjetischen Epoche erinnern oder Personen und Ereignisse in einen richtigen Zusammenhang bringen. Gleichwohl zeigten die Jugendlichen deutlich das Gefühl der tiefen Verwandtschaft zwischen der Sowjetunion und dem heutigen Russland – die jungen Menschen fühlen sich in ihrer Bewertung der Politik in den ehemaligen Sowjetrepubliken durch die Werte und Machtinstrumente der sowjetischen Macht geleitet. Die Jugendlichen spüren ein deutliches Bedürfnis an nach Kollektiv, an nach historischer „Wir-Gemeinschaft“, doch die­ser Wunsch der kollektiven Identität steht im Widerspruch zum tatsächlichen Wissen über die Geschichte ihres Landes.

Oleg Božkov, (Soziologische Institut, RAW) stellte anhand der Analyse von Nekrologen (öffentlichen Todesanzeigen) eine gewisse Hierarchie der homines sovetici auf: Im Beitrag „Wer ist der Geschichte am meisten wert?“ zeigt der Autor ein Paradoxon zwischen den deklarierten Werten in der Sowjetunion als „Arbeiter- und Bauernstaat“ und der tatsächlichen Wertschätzung dieser oder jener sozialen Schicht der sowjetischen Gesellschaft. Ganz oben in der Rangliste des gesellschaftlichen Ansehens stand in der sowjetischen Epoche die Beamtenschicht. Die Platzierung der Nekrologe, ihre Semantik und die Bewertung des „Verlustes“ für das „Kollektiv“ seien nach Meinung des Autors deut­liche Zeichen dieser hierarchischen Ordnung.

Die im zuletzt erschienenen fünften Band vereinigten Beiträge von Soziologen, Literaturwissenschaftlern und Historikern gruppieren sich um eine der spannendsten Fragen, die nach den Möglichkeiten und Grenzen der Einordnung des eigenen Lebensweges in die sowjetische Meistererzählung früher und heute. Besondere Beachtung verdienen dabei die Aufsätze der Historikerin Tatjana Voronina (Europäische Universität, St. Petersburg) („Der sowjetische heroische Diskurs im Kontext der Oral-History-Inteviews“) und der Soziologin Nina Cvetaeva („Biografische Narrative der sowjetischen Epoche: Modelle der Distanzierung von ideologischen Normen“). Beide Beiträge setzen sich mit der subjektiven Wahrnehmung des eigenen Schicksals sowie der Lebens-Erzählung über die sowjetische Zeit durch das Prisma der heutigen Situation bei Angehörigen der älteren Generation auseinander. Es gilt festzuhalten, dass die in den sowjetischen „master narratives“ tradierten heroischen Erzählmuster noch immer sowohl das kommunikative Gedächtnis als auch die individuelle Erzählung der Menschen prägen. Am Beispiel der Interviews mit Überlebenden der Blockade Leningrads sowie mit BAM-Bau­ar­bei­tern weist Tatjana Voronina nach, dass die durch den staatlichen Vergangenheitsdiskurs indoktrinierten Geschichtsbilder den Inhalt der persönlichen Erzählung bestimmen.

Insgesamt hinterlassen die Sammelbände – durch die Vielfalt an hochinteressanten und innovativen Themen, welche die Beiträge anreißen, – einen positiven Eindruck. Derjenige, der sich für die sowjetische Gesellschaftsgeschichte interessiert, mag für seinen Forschungsschwerpunkt einen Ansatz in die eine oder anderer Richtung finden. Gleichwohl erweist sich die Suche nach der passenden Anregung als mühsam und umständlich: Zu den zentralen Mängeln der Sammelbände gehört zweifellos, dass man in ihnen vergeblich nach einer Einleitung der Herausgeber sucht, welche die Aufsätze kon­textualisieren würde. Auch fehlen Angaben zur Struktur der einzelnen Bände, Vorstellungen der Autoren der Beiträge, in welchen deren jeweilige Forschungsschwerpunkte deutlich dargelegt würden, sowie bibliographische Apparate zur Thematik des jeweiligen Sammelbandes. Zu den Schwächen der Sammelbände kann auch die augenfällige Dissonanz in der Qualität der einzelnen Beiträge gezählt werden: Unter den fundierten, quellensicheren und quellenkritischen Analysen trifft man allzu oft auf Beiträge, die keine Angaben zur verwendeten Literatur respektive zum bearbeiteten empirischen Material enthalten bzw. die einfach nur frühere Studien desselben Autors „zitieren“. Es wäre deshalb wünschenswert, dass die Herausgeber würden das Format der Sammelbände überdenken, die eingehenden Tagungsbeiträge vor ihrer Publikation strenger auf ihre wissenschaftliche Qualität und Relevanz hin prüfen sowie die zukünftigen Bän­de durch eine entsprechende Einleitung ergänzen. Sonst droht der begrüßenswerte Ansatz, die Biographik als Methode und die Biographie als Quelle auf die Bühne der zeitgenössischen post-sowjetischen Historiographie zu bringen, durch die erwähnten Defizite die verdiente Auf­merksamkeit wieder zu verlieren.

Ekaterina Makhotina, München

Zitierweise: Ekaterina Makhotina über: Pravo na imja: biografii XX veka. Biografičeskij metod v social’nych i istoričeskich naukach. Čtenija pamjati Veniamina Iofe. 18–19 aprelja 2003 [Recht auf den Namen. Biographien des 20. Jahrhunderts. Der biographische Ansatz in den Geschichts- und Sozialwiss, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Makhotina_Recht_auf_den_Namen.html (Datum des Seitenbesuchs)