Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  459-460

Oleksiy Kurajev Ukraïns’ka problema u polityci Berlina ta Vidnja u Peršyj svitovij vijni (1914–1918) [Das ukrainische Problem in der Politik Berlins und Wiens im Ersten Weltkrieg (1914–1918)]. Vydavn. Instytutu ukraïns’koï archeohrafiï ta džereloznavstva im. M. S. Hruševskogo Nacional’noï akademiï nauk Ukraïny Kyïv 2006. 257 S. ISBN: 966-02-3956-4.

Die ukrainische Frage in der Politik der Mittelmächte während des Ersten Weltkriegs hat bereits eine beachtliche Zahl von Bearbeitern gefunden, die ganz unterschiedliche Aspekte dieses Themas behandelt haben. Auslöser war auch hier die Fischer-Kontroverse, die Historiker unterschiedlicher Länder zur Beschäftigung mit der deutschen Ukrainepolitik zwischen 1914 und 1918 veranlasste. Ukrainische Wissenschaftler bildeten dabei fast die Ausnahme, und substantielle Beiträge liegen praktisch erst aus den neunziger Jahren vor. Umso erfreulicher, dass sich nun ein ukrainischer Kollege, Mitarbeiter des Hruševs’kyj-Instituts an der Akademie der Wissenschaften in Kiev, des Themas angenommen hat.

Ausgangspunkt für Kurajevs Studie ist die Beobachtung, dass sich die vorliegenden Arbeiten zum einen vor allem auf die Periode 1917/ 1918 konzentrieren und zum anderen die Politik auf Regierungsebene untersuchen, dagegen der Zeit davor und der Wahrnehmung der Ukraine in der Öffentlichkeit des Deutschen Reiches und der Habsburgermonarchie weniger Aufmerksamkeit schenken. Ihm geht es daher um eine Zusammenschau sowie um die Frage, wann und wie die Ukraine ein Faktor in der Politik Berlins, Wiens und der internationalen Politik wurde.

Gegliedert ist die Arbeit, die auf umfangreichen Quellenrecherchen in deutschen und österreichischen Archiven beruht, in vier größere Abschnitte. Der erste ist der Vorgeschichte, dem Zeitraum von 1843 bis 1914, gewidmet, in dem die Ukraine für Preußen-Deutschland von eher sekundärer Bedeutung war, während im Kontext der polnisch-ukrainischen Spannungen und angesichts russophiler Tendenzen im Kronland Galizien der ukrainische Faktor in Wien von viel erheblicherem Gewicht sein musste. Die übrigen Kapitel folgen der Chronologie bis zum Abschluss des „Brot-Friedens“ von Brest-Litovsk, durch den die UNR ihre diplomatische Anerkennung durch die Mittelmächte und ihre Verbündeten fand.

Neues erfährt man aus der Studie nicht, wenn man unbekannte Fakten, Ereignisse oder Entwicklungen erwartet. Dazu ist das Wichtigste bereits recherchiert. Kurajev geht es daher vor allem darum zu zeigen, wie sehr die ukrainische Frage für die Berliner wie die Wiener Politik abhängig war von übergeordneten Zielen und eher Teil einer immer wieder an die sich wandelnden Verhältnisse angepassten Strategie darstellte. Das Russländische Reich befand sich im Visier der deutschen Reichsleitung, welche Repräsentanten der Ukraine und die ukrainische Frage nutzte, um militärische Operationen in den südwestlichen Gebieten des Zarenreiches vorzubereiten. Dazu wurden Pläne erarbeitet und Versprechen zur Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Ukraine gegeben, aber dies geschah, wie Kurajev mit Recht hervorhebt, immer in Abhängigkeit von der Lage an den militärischen Fronten. Die Ukraine wurde gebraucht und die Ukrainer wurden hofiert, um Russland zurückzudrängen und den eigenen Vorteil zu mehren – mehr nicht, wie nicht zuletzt die deutsche Ostpolitik nach der Februarrevolution gezeigt hat.

Vor diesem Hintergrund gewinnen dann auch die ganz anderen Prämissen und Konzepte an Schärfe, welche gleichzeitig Politik und Strategie Wiens bestimmten. Während Berlin den Blick sozusagen fest auf das Zarenreich gerichtet hielt, bestimmten in den Überlegungen Österreich-Ungarns vor allem auch polnische Interessen die Ukrainepolitik. Um diese zu bedienen, war man in Wien bis fast zum Schluss bereit, die ukrainischen Anliegen als sekundär zu behandeln. Vor allem in der Kronlandfrage, der Frage der Teilung Galiziens in einen polnischen und einen ukrainischen Teil oder mit Blick auf die Zugehörigkeit des Cholmer Landes wurde diese Politik nicht gehaltener Versprechungen deutlich. Auch die entsprechenden Bestimmungen des Brest-Litovsker Vertrags 1918 legen davon beredt Zeugnis ab.

Das Zustandekommen wie der Abschluss dieses Friedensabkommens werden von Kura­jev ausführlich und in ihrer Ambivalenz für die Ukrainer gewürdigt. Als positiv betrachtet er den Frieden, weil er der UNR in einer sehr schwierigen Situation die Staatlichkeit bestätigt und diese vor den Angriffen der Bol’ševiki geschützt hat. Dazu sei die Rada jetzt auch in der Lage gewesen, entsprechende Anerkennung von anderen Staaten, vor allem von den mit den Mittelmächten verbündeten oder befreundeten Staaten wie etwa Schweden, zu erlangen. Andererseits bedeutete Brest-Litovsk den Bruch mit der Entente und den USA und in der Folge deren Orientierung auf Polen und dessen Wiederherstellung.

Zusammenfassend qualifiziert Kurajev die deutsche und österreichische Ukrainepolitik in der vorletzten Phase des Weltkrieges als so pragmatisch wie zynisch. Von einer durchdachten und entsprechend geplanten Ostpolitik Deutschlands konnte keine Rede sein. Mutatis mu­tandis galt dies auch für Wien, wo bis zum Ende das Paradigma einer austro-polnischen Lösung bestimmend blieb. Zusagen und Versprechungen an die Ukrainer hatten tatsächlich nur taktischen Charakter.

Oleksyj Kurajev hat mit seinem Buch eine präzise Analyse der deutschen und österreichischen Ukrainepolitik bis Brest-Litovsk vorgelegt. Sie lässt am Charakter der Ukraine als eines Nebenschauplatzes vor allem der Berliner Politik und Strategie, die auf eine Dekomposition des Russländischen Reiches zielten, keinen Zweifel. Dessen ungeachtet hätte man gerne auch noch ein paar Zeilen zur Frage der Ukraine als eines ökonomischen Faktors und dessen Bedeutung im deutschen Ukraine-Diskurs vor 1914 gelesen, auch wenn diese Periode noch viel weniger erforscht ist als die Kriegszeit, wie der Verfasser zu Recht hervorhebt. Man darf auf weitere Publikationen des Kiever Historikers gespannt sein.

Rudolf A. Mark, Lüneburg

Zitierweise: Rudolf A. Mark über: Oleksiy Kurajev: Ukraïns’ka problema u polityci Berlina ta Vidnja u Peršyj svitovij vijni (1914–1918). Vydavn. Instytutu ukraïns’koï archeohrafiï ta džereloznavstva im. M. S. Hruševs’kogo Nacional’noï akademiï nauk Ukraïny Kyïv 2006. ISBN: 966-02-3956-4, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 459-460: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mark_Kurayev_Ukrajinska_problema.html (Datum des Seitenbesuchs)