Erich Donnert Die Universität Dorpat-Jur’ev 1802–1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Hoch­schulwesens in den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches. Peter Lang, Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt a.M. [usw.] 2007. 256 S., 35 Abb. ISBN: 978-3-631-56477-6.

Nachdem Erich Donnert seit den neunziger Jahren eine Reihe von Überblicksdarstellungen und Biographien zur russischen Geschichte publiziert hat, widmet er sich nun der Universitätsgeschichte. Donnert zufolge hat Dorpat-Jur’ev „in der deutschen Historiographie bislang keine wissenschaftlich ausreichende Darstellung erfahren“ (S. 10). Er konstatiert „die noch immer ungenügende Aufbereitung des Quellenmaterials und die unzureichende Untersuchung der einzelnen an der Universität Dorpat-Jur’ev vorhandenen Wissenschaftsdisziplinen mitsamt ihren Vertretern in Lehre und Forschung (S. 11)“. Doch sein neues Buch vermag weder das eine noch das andere Desiderat zu beheben, denn obwohl er mit seinem Dank im Vorwort (S. 8) die Benutzung estnischer und lettischer Archive für dieses Buch suggeriert, hat er für die Darstellung keinerlei Archivmaterial benutzt und zitiert auch gedruckte Quellen ganz überwiegend nach der Sekundärliteratur. Dies gilt sogar für die auch in der Hallenser Universitätsbibliothek vorhandenen „Preußischen Jahrbücher“. Ebenso wenig leistet er die postulierte „Untersuchung der [...] vorhandenen Wissenschaftsdisziplinen“. Was Donnert stattdessen bietet, ist ein mit Kurz­biographien aufgeblähter historischer Abriss (S. 17–73) und ein langes Kapitel über die „Wis­senschaftsentwicklung“, in dem er zu einzelnen Fächergruppen biographische Informationen über manche ihrer Lehrstuhlinhaber an­ein­anderreiht (S. 91–198). Ein Kriterium für die Auswahl der (in einem Satz, einem Absatz oder auf mehreren Seiten) Behandelten ist nicht genannt. Die Informationen sind teilweise ungenau, irreführend formuliert oder fehlerhaft (z.B. über Karl Dehio S. 204). Es folgen ein kurzes Kapitel über „Die Deutsche [!] Universität Dorpat 1918“ (S. 199–208) und ein „Schluss“, der manche Befunde und wichtige Namen nur noch einmal wiederholt.

Von der älteren, traditionellen Universitätsgeschichte unterscheidet sich Donnerts Text durch lange Ausführungen allgemeiner Art zur Geschichte der baltischen Provinzen im Russischen Reich, dafür wird aber die eigentliche Uni­versitätsgeschichte in den Hintergrund gedrängt, auf Elementares beschränkt. Schon deshalb wird man nicht von einer gelungenen Verbindung von Universitäts- und Gesellschaftsgeschichte sprechen können. Gravierender ist Don­nerts mangelnde Kenntnis der russländischen Universitätsgeschichte. So behauptet er z.B., mit dem Universitätsstatut 1884 seien „die bisherigen Hochschulräte, die die Rektoren, Dekane und Professoren wählten, beseitigt“ worden (S. 60), in Wirklichkeit aber existierten diese „Räte“ weiter, nur das Wahlrecht war ihnen ent­zogen worden. Deshalb heißt es auf der näch­sten Seite auch, dass „die Professoren unter Ein­holung der Meinung des [also doch noch bestehenden!] Universitätsrats durch den Minister berufen“ wurden (S. 61). Dieses Beispiel ist typisch für die flüchtige Kompilation von Informationen, welche sich auch in der inkonsistenten Terminologie spiegelt. So benutzt Donnert für den Conseil/sovet, also das Plenum der Professoren, die Begriffe „Universitätsrat“ (S. 62), „Senat“ (S. 46), „Rat“ (S. 70). Ob das auch an der baltischen Geschichte interessierte Leser verstehen, die keine Vorkenntnisse zum russländischen Universitätssystem haben? Und was sollen sich deutsche Universitätshistoriker unter der „Reichsuniversität“ Dorpat (S. 9) vorstellen, wenn sie den Begriff „Reichsuniversität“ doch nur von den nationalsozialistischen Schöpfungen und von der nichtoffiziellen Bezeichnung der Universität Straßburg im späten Kaiserreich als Universität des Reichslandes Elsass-Loth­ringen, die direkt dem Reichskanzler unterstand, kennen? Welchen Reim sollen sie sich schließlich darauf machen, dass der berühmte Staats- und Völkerrechtler August von Bulmerincq „noch vor Übernahme der Dorpater Professur den Dr. jur.“ erwarb (S. 103), wenn man ihnen nir­gendwo das System der russländischen akademischen Grade erläutert?

Andere terminologische Unachtsamkeiten sind etwa die „nichtorthodoxen Bürger“ (S. 33; an­stelle von „Untertanen“) in den „baltischen Ländern“ (S. 46; wohl statt „baltischen Landen“) des 19. Jahrhunderts und die „reichsdeutschen“ Professoren in Zeiten, in denen es noch kein Deutsches Reich gab (S. 46; vgl. auch S. 106 „Deutsches Reich“ für das frühe 19. Jahr­hundert). Die Flüchtigkeitsfehler setzen sich fort bei Jahreszahlen (z.B. S. 17, 20, 26, 31, 121, 164) und Namensschreibungen. So heißt es auf S. 134: „Nachfolger Baudoin [!] de Courtenays wurde Anton Budinovič [!]“. Während der berühmte polnische Linguist in einer Bildunterschrift auch noch als „Bodin de Courtenay“ (S. 91) und an anderer Stelle mit dem dritten Vornamen „Nezislaw“ (und wieder falsch geschriebenem Nachnamen) auftaucht (S. 212), im Register und bei den wenigen sonstigen Nennungen aber immerhin richtig geschrieben ist (Jan Baudouin de C.), darf sich der Ideologe und Organisator der Russifizierung (in Warschau und Dorpat!) an allen Stellen quasi hinter einem Pseudonym verbergen. Doch während die Samarin-Schirren-Kontroverse noch einmal ausführlich dargestellt wird (allerdings nicht aus den Quellen, sondern aus der neueren Sekundärliteratur, S. 51–54), wird die für die Universitätsgeschichte bedeutsame Polemik zwischen dem Jur’ever Rektor Budilovič (so der richtige Name) und dem einstigen Dorpater Rektor Georg von Oettingen nur in einem Satz referiert (ohne Beleg). So entgehen Donnert nicht nur Bu­dilovičs Begründung für dessen These vom Niedergang der Universität Dorpat seit den sech­ziger Jahren (im „Žurnal Ministerstva Narodnogo Prosveščenija“ 1895 und in einer Artikelserie im „Rižskij Vestnik“ 1897), sondern auch dessen kulturimperialistische Haltung: In einem Aufsatz von 1896 über die „kulturelle Eigenständigkeit“ (otdel’nost’) der slavisch-grie­chi­schen Kulturwelt betrachtete er die Esten und Letten als deren „organische Glieder“ („Russkoe Obozrenie“ 42 [1896], S. 162–181, Zitat S. 181).

Da Donnert sich auf Sekundärliteratur und bio­graphische Nachschlagewerke beschränkt hat, entgehen ihm auch die Erinnerungen deutsch­baltischer, deutscher und russischer Professoren und Studenten, welche die Eigentümlichkeit der Universität Dorpat bzw. Jur’ev im Vergleich zu den deutschen wie den russischen Universitäten anschaulich machen könnten (z.B. F. von Bidder, A. von Oettingen. G. Dragendorff; A. Strümpell, B. Naunyn, E. Kraepelin; V. E. Grabar’; K. Bežanickaja, E. Degen). Geradezu unverzeihlich scheint der Verzicht auf die Dokumentation der Liquidierung der russischen Universität durch die deutschen Besatzungsbehörden 1918 (K. Sent-Iler K istorii Vo­ronežskogo Universiteta, in: Trudy Voro­než­s­kogo universiteta 1 [1925], S. 362–397), die un­ter anderem auch das von dem Völkerrechtler V. E. Grabar’ entworfene Memorandum der russischen Professoren enthält. Ein Literaturverzeichnis fehlt übrigens. Dafür wird die einschlägige Literatur ziemlich breit und dennoch unvollständig in langen Sammelanmerkungen zu Beginn der Kapitel genannt. Der Autor scheint jedoch die genannten Titel gar nicht alle gelesen zu haben.

Wenn Donnert seine Absicht am Ende des Bu­ches nur noch als Anregung zu „einer gründlichen Untersuchung und Darstellung“ versteht (S. 213), kann man dem nur beipflichten. Er selbst hat die von ihm so geschätzte Forschungsfreiheit nach dem Ende der „ideologische[n] Kontrolle der Sowjetmacht“ (S. 15f.) lei­der nicht dafür genutzt und nur eine Kompilation nicht ganz zuverlässiger Informationen vorgelegt.

Trude Maurer, Göttingen

Zitierweise: Trude Maurer über: Erich Donnert: Die Universität Dorpat-Jur’ev 1802–1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Hochschulwesens in den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches. Peter Lang, Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt a.M. [usw.] 2007. ISBN: 978-3-631-56477-6., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 1, S. 120-121: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Maurer_Donnert_Universitaet_Dorpat.html (Datum des Seitenbesuchs)